Walpurgistag
und der Musik zu lauschen, ist zumindest im Hochsommer besser als Sex, denn die Kapelle ist immer schön kühl, und es riecht auch überhaupt nicht nach Tod.
Der Taxifahrer fährt Schlangenlinie. »Nicht doch«, sage ich zu ihm, »das ist nicht der Tod hier im Taxi. Das ist Liebig, der übt nur den Trauermarsch.« Der Fahrer schaut Liebig schon die ganze Karl-Marx-Allee lang etwas irritiert im Rückspiegel an und achtet kaum auf die Straße. Wahrscheinlich sind wir ihm beide unheimlich. »Und was ist Ihnen passiert?«, frage ich ihn, um ihn abzulenken von Liebigs Kapriolen. »Nachts im Wedding gewesen. « – »Zur falschen Zeit am falschen Ort, meinen Sie?« – »So kann man es nennen«, sagt der Taxifahrer, und ich bin froh, dass er am Strausberger Platz nach rechts in die ruhigere Lichtenberger Straße einbiegt. » Warum liegen Sie nicht im Bett und ruhen sich aus?« – »Geht nicht, ich brauch das Geld.«
»Wir sind Saurier. Unsere Körper sind zu groß. Wir sehen eine Stadt, die es schon lange nicht mehr gibt, und wir finden keinen Platz mehr darin für unsere breiten Hintern und langen fleischigen Schwänze. Deshalb werden wir früher oder später aussterben«, sagt Liebig, der jetzt die Hände wieder still hält. » Willst
du auch noch die Trauerrede für Blix sprechen? Und überhaupt, wenn, dann sind wir Bergschildkröten.« Ich mache mich lustig über ihn, damit der Taxifahrer beruhigt ist – wenigstens die Frau ist vernünftig – und die Straßenverkehrsordnung einhält. Nicht auszudenken, wenn uns eine Polizeistreife anhält und wir alle unsere Ausweise zeigen müssen.
Vor der Ampel am Platz der Vereinten Nationen muss das Taxi scharf bremsen, weil der Fahrer um ein Haar das rote Licht missachtet hätte. Ich knalle gegen die Kopflehne des Vordersitzes, denn ich bin nicht angeschnallt. Liebig grinst. Er schnallt sich immer sofort an. Der Fahrer fragt, ob ich mir was getan habe. Ich verneine, frage ihn aber zurück, ob es nicht besser sei, wenigstens für heute Schluss zu machen. Bei der Vollbremsung ist sein Notizbuch vom Beifahrersitz in den Spalt zwischen den beiden Vordersitzen hinter der Kupplung gerutscht. Er hat es offenbar nicht bemerkt. Ich hebe es auf und lese darin.
»Meine Anzeige«, steht da, und daneben klebt ein Ausschnitt aus einer Zeitung, der Schriftart nach aus dem Tagesspiegel: »Gr. schw.haariger Er, niveauv., unabh., sucht spontane Sie f. unkompl. Liebe, gern i. freier Natur.« Vor unseren Augen ist die freie Natur des Volksparks Friedrichshain zu sehen. Ich überlege, ob es der Fahrer auch hier treiben würde, am helllichten Tag, hinter den zart lindgrünen Blättern der Büsche. Aber da würde er wahrscheinlich den Strichern ins Gehege kommen.
Das Taxi hält am Fuße des Prenzlauer Bergs. Das Taxameter stoppt bei 6,80 Euro. Neben dem Taxameter hängt sein Namensschild. Andreas Hosch ist sein Name. Ich gebe Andreas einen Zehn-Euro-Schein, den ich in die Notizbuchseite mit der Anzeige stecke und nach vorn reiche. »Acht«, sage ich. Er verzieht das Gesicht zu einem Grinsen. Es muss ihm wehtun, denn gleichzeitig hat er eine Schmerzfalte über der Stirn. » Von Ihnen aufgegeben?« Er wird rot unter seinem Kopfverband. »Ja.« Ich würde ihm gerne auf die Anzeige antworten, denn dass er nicht Auto fahren kann, muss ja nichts mit seinen sexuellen Fähigkeiten zu tun haben. Aber ich habe mir die Chiffre nicht gemerkt, und zu fragen traue
ich mich nicht. »Man sieht sich, Andreas«, sage ich und rutsche auf der Bank hinter Liebig her. Kaum ist der ausgestiegen, rennt er schon auf die Kapelle zu. Eine Menge Leute stehen davor. Die meisten sind schwarz gekleidet, wie immer. Eine Frau verteilt Flugblätter.
Ich drücke mich, den Kopf gesenkt, an den wartenden Trauergästen vorbei und laufe ein Stück hügelan. Ich kann nicht mit in die Kapelle kommen, ich halte es mit so vielen Menschen in einem geschlossenen Raum nicht mehr aus. Es muss wohl irgendeine Form von Angst sein.
11.35 Uhr
Hosch chauffiert ein Aneurysma zur Charité
Die Greifswalder Straße schwankt und teilt sich in zwei Asphaltschichten, die obere ist durchsichtig und will nicht weichen. Hosch ist schwindelig. Er schließt die Augen, aber die Straße flimmert wie ein Schattenspiel auf schwarzem Grund weiter.
Er ist inzwischen der Erste in der Schlange am Taxistand. Die zwei Kollegen, die vor ihm standen, sind kurz nacheinander weggefahren.
Seine letzten Fahrgäste gehen ihm nicht aus dem Kopf. Die beiden haben
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