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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Tür verursacht einen Wahnsinnsschmerz in Hoschs Hinterkopf. Unmöglich kann er jetzt weiterfahren. Erst mal aufs Ohr legen. Er holt sein Handy aus dem Handschuhfach. In dem Moment klingelt es. Es ist die Mailbox. Der Polizeiabschnitt 36 in der Pankstraße fragt an, ob er bis 16 Uhr vorbeikommen könne, da man erfahren habe, dass er sich aus dem Krankenhaus entfernt hat. Man brauche dringend seine Aussage. Hosch stellt den Wecker auf 13 Uhr und sieht sich auch noch die zwei SMS an. Eine ist von Micha. »War’s noch schön gestern? Meld dich mal wegen heute Abend.« Die zweite ist von seinem Blind Date, die fragt, ob er es erotisch finde, wenn sie seine Nippel lecke. Hosch findet das im Moment unpassend.
    Er steigt um auf die Rückbank seines Taxis und versucht zu schlafen. Der Schmerz pocht sehr laut in seinem Kopf. Von hinten nähert sich ein Krankenwagen mit Blaulicht. Als er vorbeirauscht, sieht Hosch beim Blick durchs Fenster sich selbst auf der Trage liegen. Aus dem Verband an seinem Kopf suppt es rotbraun.

11.55 Uhr
Alex stolpert über ein Loch im Gras
    Liebig verlässt als Erster die Kapelle am Fuß des Prenzlauer Bergs. Ihm folgt ein schwarz gekleideter Zwerg mit der Urne, der einen Schritt vor Alex den Hügel hochstakt. Es sieht sehr majestätisch aus, wie Liebig da, den Trauerzwerg um fast einen Kopf überragend, mit dem Ghettoblaster vorausgeht, obwohl so ein Heulding für ihn Teufelszeug ist und er Punk nicht viel abgewinnen kann. Aber er ist Profi genug, es sich nicht anmerken zu lassen. Blix hat es so gewollt. Liebig hat früher auf dem Friedhof der Sozialisten für alte Genossen Unsterbliche Opfer oder das Lied vom Kleinen Trompeter gespielt , das waren auch nicht gerade seine Lieblingsstücke.
    Liebig ist der einzige Anarchist unter all den anwesenden schwarz-rot Gekleideten, auch wenn er nie mitschreien würde, was da so aus dem Ghettoblaster kommt. »I WANNA BE ANARCHY I am an Anti-Christ/I am an anarchist, / don’t know what I want/but I know how to get it. / I wanna destroy the passer by / ’cos I wanna be anarchy, /...« Dann ist es vorbei mit dem Text im Bierhirn der Lebendigen, und die Hälfte des Trauerzugs kreischt nur noch, vier machen die Gitarrenriffs in der Luft nach, fünfzig trampeln auf fremden Gräbern herum, und zwölf hüpfen nach Pogoart wie Rumpelstilzchen den Weg zur Urnengrabstätte hinauf. Fünf recken ihre Arme, in den Händen Schnapspullen. Halb voll oder halb leer, wie man’s nimmt.
    Mir reicht es, das ganze Chaos aus der Ferne zu beobachten. Ich bin mit den Jahren einfach empfindlicher geworden, was die Nähe von Fremden angeht. Ich neige da zu Schweißausbrüchen, bin wohl die Wärme, die Körper produzieren, nicht mehr gewöhnt. Außerdem, wer weiß, wer von denen da unten nicht doch nebenbei noch so ein bisschen herumspitzelt, weil die Sozialhilfe
nicht reicht oder Knast droht im Falle der Weigerung. Man darf sich keine Illusionen machen: Dieser Beschäftigungszweig ist ganz bestimmt nicht ausgestorben.
    »Anarchy for the PB«, schreien jetzt alle und machen sich etwas vor. In ein paar Jahren wird niemand von ihnen mehr im Prenzlauer Berg wohnen, es sei denn, sie haben ein Talent zum Geldverdienen, also den richtigen Riecher für Moden.
    Ich komme ins Kippeln und verliere das Gleichgewicht. Fast wäre ich rückwärts über die Einfassung eines Grabes gestolpert. »Rudolf Schweickert 1921 – 1989 unvergessen.« Es sieht gepflegt aus. Frische Primeln und Tulpen. Seine Frau Gerda ist auch schon in den Stein gemeißelt, allerdings fehlt ihr Sterbejahr. Sie muss also noch irgendwo da draußen herumlaufen, falls sie es sich nicht anders überlegt hat und zu einem anderen Mann oder doch in ein Einzelgrab geschlüpft ist.
    Die Trauergesellschaft klumpt sich vor einem winzigen Loch zusammen. Sie haben den Trauerzwerg in ihre Mitte genommen. Er hält den Kopf gesenkt und verharrt, die Urne mit Blix vor der Brust, in dieser Stellung.
    Wenn ich mich so umsehe, bin ich mir nicht sicher, ob für Blix der Bartholomäusfriedhof in Weißensee nicht doch besser gewesen wäre. Das ist zwar die falsche Erde, aber da liegen zwei der Brasch-Brüder und der Maler Voges, da könnten sie den Torpedokäfer unter der Erde betreiben und wären alle vier ihre besten Kunden. Naja, an Trunkenbolden wird auch hier unter der Erde kein Mangel herrschen, aber sicher ist kaum einer darunter, der auch im Suff noch kluge Sachen sagen kann. Die werden ständig Skat spielen wollen, und Blix hasst Skat.

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