Walpurgistag
dass das Kinderzimmer am besten für den Ollschen wäre? Schließlich wird er von Jahr zu Jahr jünger. « – »Aber nie jünger, als er war, als er sich eingefroren hat«, sagt Liebig, »überleg also, ob du einen gestandenen Mann mit dem Kinderzimmer abspeisen willst.« – »Dann hilf mir mal schieben, muss er eben in den Abstellraum. Im Kinderzimmer können auch Alex, Aki und du übernachten, wenn ihr nicht wegkommt in der Nacht. Wir benennen es um in Herrenzimmer.« – »Ich werde keine Nacht meines Lebens in Lichtenberg verbringen. Selbst in meinen schwersten Absturztagen habe ich mich immer noch bis unter die Ringbahnbrücke geschleppt.« Liebig ist empört, und ich weiß wieder mal nicht, ob er es ernst meint. Blix war auch so einer. Der hat gesagt, entweder er wird im Prenzlauer Berg begraben oder gar nicht, nachdem die Sozialamtsmitarbeiterin zu seiner Schwester gesagt hat, dass eine Beerdigung auf Sozialhilfekosten nur in Weißensee möglich sei, in Prenzlauer Berg seien die Liegeplätze auf dem Friedhof zu teuer. Da hat sich Blix doch wirklich am Arm seiner Schwester zum Sozialamt geschleppt, um seine letzte große Rede zu halten. »Det is mein Kiez, nich deiner, du Westtusse«, hat er zu der Sozialarbeiterin gesagt. »Ick hab hier schon uff ’m Friedhof jespielt, da warst du Jespenst noch Quark im Schaufenster. Und jetzt is det hier zu fein zum Sterben. Mann, wir hätten allet niederbrennen sollen, oder besser noch, ’ne Mauer drum, ’ne autonome Republik, ohne euer Scheißjeld, mit jenug
Bier und freier Liebe, statt BMW und Dachjeschoss. Es lebe die Anarchie, und wenn ick nich in die Erde komme, in die ick will, dann bleib ick hier sitzen, bis ick stinke.« – »Ick bin ooch inne 10. POS inner Senefelder jegangen«, rechtfertigte sich die Sozialarbeiterin, den Ton wechselnd, als wollte sie die Westtusse auf keinen Fall auf sich sitzen lassen, aber Blix, so hat seine Schwester hinterher Liebig erzählt, sei nicht mehr zu bremsen gewesen. »Noch schlimmer, ’ne Verräterin«, soll Blix gesagt haben, »für det bisschen Knete jehste deinen halb toten Sandkastenfreunden uff ’n Keks, du solltest dir schämen.«
Die Rede hatte ihn vollkommen erschöpft, und er musste wieder in die Klinik nach Buch. Einmal ist er noch auf allen vieren in den Prenzlauer Berg zurückgekehrt, da kannte er ja nichts, von wegen in Buch sterben, was anderes als die Duncker kam nicht infrage. In der Duncker war er geboren, und in der Duncker starb er auch. Basta. Dazwischen lagen fünfzig Jahre. »Für meinen Jeschmack zwanzig Jahre zu viel oder zwanzig zu wenig«, hat Blix zu Liebig gesagt, als ihm klargeworden war, dass er den Krebs nicht mehr lange würde überlisten können. Da stand er nicht mehr voll bis zur Halskrause hinter dem Tresen des Torpedokäfer, sondern saß mit einer Tasse lauwarmem Pfefferminztee am Rand, gleich neben der Tür, damit die Freunde, wenn die Ambulanz kam, weil er wieder zusammengebrochen war, ihn nicht durch die ganze Kneipe tragen mussten.
Der Torpedokäfer ist Liebigs Stammkneipe, von ihm nur Käfer genannt. Sie ist nach einem Buch von Franz Jung, dem Schutzheiligen der Trinker, Spieler, Bohemiens und Untergetauchten, benannt. Alles, was ich über das illegale Leben wusste, bevor ich selbst in den Untergrund gegangen bin, habe ich bei Franz Jung gelernt, auch wenn der noch nicht mit fälschungssicheren Ausweisen, Überwachungskameras, Telefonkontrolle und dem Meldegesetz zu tun hatte.
Die Freunde aus dem Torpedokäfer haben zusammengelegt und Blix ein anonymes Grab auf dem Georgenfriedhof gekauft. Da soll seine Urne heute bestattet werden. Am Fuße des Prenzlauer Bergs, wie er es sich gewünscht hat.
Wir schieben Papa in seinem Kältesarg aus dem Flur in den Abstellraum, der außerhalb der Wohnung liegt. Das macht ziemlichen Krach, obwohl ich Kartoffelscheiben unter die Füße gelegt habe, damit die Truhe besser rutscht. Als wir es geschafft haben, wischt Liebig sich die Hände an seinem guten Beerdigungsanzug ab. »Höchste Zeit zu gehen.« Ich probiere die Schlüssel aus, aber keiner passt. »Komm, lass offen, hier spioniert schon keiner.« – »Das sagst du, wo hier sicher die Hälfte der Mieter als Spion gearbeitet hat.« – »Ist nur keiner mehr da von denen.« – »Naja, egal, bin ja bald wieder zurück.« – »Ich hab auf dem Friedhof noch einen Dietrich, erinner mich dran, aber jetzt mach mal hinne.« – »Soll ich den Schleier nehmen oder die rote Perücke?«, frage ich.
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