Walpurgistag
Liebig rollt mit den Augen. Das sieht sexy aus bei ihm. »Der Schleier ist zu auffällig, da will jeder druntergucken, also nimm die rote Perücke und die große Sonnenbrille. Du kannst ja so tun, als wärst du untröstlich verheult.« – »Bin ich auch. Schließlich wollte Blix mich mal heiraten.« – »Sieh an, da bist du ja nicht die Einzige.« – »Aber ich sollte erst zehn Kilo abnehmen.« – »Da müsstest du ja in letzter Zeit wieder gute Chancen gehabt haben.« – »Du vergisst, ich bin nicht gerade die beste Partie, mit diesem Schwiegervater.« – »Mach hin, der Tod kennt die Uhr.« – »Da kann ich ja sicher sein, dass er bei mir die Geduld verliert und abhaut.« – »Ich kann auch vorgehen.« – »Gemach, gemach, wir nehmen sowieso ein Taxi«, sage ich und ziehe mir die Perücke über. »Du weißt doch, dass ich nervös werde, wenn man mich in öffentlichen Verkehrsmitteln anstarrt. Ich brauche einen neuen Ausweis.« – »Ich hol schon mal den Fahrstuhl.« Als ich endlich abschließe, steht Liebig schon in der Lichtschranke der Tür. »Ich möchte Freunde haben, die pünktlich sind.« – »Dann musst du ein anderes Leben anfangen.« Ich drücke auf E, es geht abwärts.
Ein beruhigender Akt.
Der Fahrstuhl schleift in Höhe der vierten Etage. Das Aluminiumschild kenne ich, das hing in jedem Fahrstuhl an der gleichen Stelle. Takraf, Baujahr 1975.
Draußen halte ich ein Taxi an, das gerade aus Richtung Bahnhof Lichtenberg kommt. Der Fahrer steigt aus und öffnet den Kofferraum, wo schon ein verbeultes Fahrrad liegt. Aber Liebig will sein Harmonium nicht aus der Hand geben. Mit seinem Kopfverband sieht der Taxifahrer aus wie ein Sikh. An der rechten Schläfe ist Eiter durchgesuppt. Hoffentlich verliert er nicht die Kontrolle über sein Fahrzeug, denke ich. Der Fahrer ahnt wohl etwas, denn er schaut mich eindringlich im Rückspiegel an, als wollte er sagen, kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. »Greifswalder Straße«, sage ich, »Georgenfriedhof. Sie können über die Friedensstraße bis zum Königstor fahren, wir steigen dann am Berg aus.«
Wir fahren die Frankfurter Allee entlang, schnurstracks geradeaus in Richtung Fernsehturm. Das Taxi kommt zügig voran.
»Berlin ist ein uneingelöstes Versprechen. Nichts ist gehalten worden«, sagt Liebig, als spräche er mit sich, und starrt auf die Stalinbauten, die rechts und links in großem Abstand voneinander vorbeiziehen. » Wirst du jetzt philosophisch? Sei doch froh, dass kein Versprechen gehalten worden ist. Stell dir vor, wir müssten jetzt durch die Hauptstadt Germania fahren, um Blix zu beerdigen.« – » Würden wir nicht. Seine Eltern waren beinharte Kommunisten, in einer Hauptstadt Germania wäre der gar nicht gezeugt worden.« – »Ich dachte, der konnte seine Eltern nicht leiden?« – » Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Auch wenn seine Alten Blindschleichen waren, die Rechten fand er deshalb noch lange nicht gut. Weißt du noch, wie Blix im Käfer die Nazis vertrieben hat?« – »Nee, das muss nach meiner Zeit gewesen sein.« – »Blix hat sie mit den langstieligen Rosen zum Ausgang geprügelt, die er drei Minuten zuvor einem tamilischen Rosenverkäufer abgekauft hatte. Gequiekt haben die, so hat das wehgetan.« – »Was wirst du spielen?«, frage ich. »Blix wollte eigentlich nur die Sex Pistols und die Ramones, aber wir haben einen Kompromiss gefunden. Jetzt spiel ich meins und der Ghettoblaster seins.« So ist Liebig. Er glaubt fest daran, dass Blix ihm zuhört.
Liebig hat die Augen geschlossen und bewegt lautlos die Lippen. Wahrscheinlich probt er, denn seine Finger drücken auf den Koffer des Harmoniums, als wären es die Tasten des Instruments.
Liebig ist der exzellenteste Beerdigungsmusiker auf Erden, und wenn er einen schlechten Tag erwischt und so wie heute am Morgen vergessen hat, sein Gebiss einzusetzen, dann sieht er aus wie der Tod persönlich am Harmonium. Aber was er darauf spielt, ist zum Heulen schön. Manchmal schwingen wir uns nachts aufs Fahrrad und fahren nach Weißensee zum Friedhof der Bartholomäusgemeinde, zu dessen Kapelle Liebig den Schlüssel hat. Dann lege ich mich flach auf den Platz, wo der Sarg bei Trauerfeiern steht, und höre Liebig auf der Empore zu, wie er auf dem Harmonium die Leningrader Sinfonie von Schostakowitsch spielt. Ich möchte sie von niemandem anderen hören. Die Instrumente, die das Harmonium nicht übernimmt, ahmt er mit dem Körper nach. Dort unten zu liegen
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