Walpurgistag
ausgesehen, als wären sie nicht von dieser Welt. Sie war unheimlich blass, blasser, als es der durchschnittliche Mitteleuropäer Ende April ist, und er hatte keine Zähne. Und woher kannte sie seinen Namen? Eigentlich hat Hosch erwartet, dass sie kurz vor der Ecke einen Besen aus ihrer Umhängetasche holt und über den Zaun fliegt, aber den Gefallen hat sie ihm nicht getan. Er hat ihre Gestalt hinter dem Zaun den Berg in Richtung Friedhofsmauer hinaufgehen sehen, während sich der Zahnlose an den zahlreichen Trauergästen vorbeischlängelte und die Kapelle ohne Verzögerung betrat. Vielleicht ist es gar keine Trauergemeinde, sondern eine Gothic-Party. Wer weiß, was die Friedhöfe heutzutage für ein bisschen Pacht alles zulassen.
Jetzt steht er hier herum, und der Schmerz pocht mit einer Intensität hinter seiner rechten Schläfe, dass er am liebsten ein Messer nehmen würde, um sie aufzuschneiden und den Schmerz auf die Straße zu schleudern, wo er vom nächstbesten Auto überfahren werden würde.
Er versucht, seinen Blick auf irgendeinen Gegenstand an der Straße zu fokussieren. Er nimmt das Haus an der Ecke, dessen Fassade seine beste Zeit hinter sich hat. Ein Kneipenfreund hat
ihm mal erzählt, dass die Fassaden der Häuser in der Greifswalder Straße von Zeit zu Zeit renoviert wurden, weil hier die Protokollstrecke der DDR-Regierung war, die bei ihrer Fahrt von Wandlitz zum Regierungsviertel vom Anblick des allgemeinen Elends verschont bleiben sollten, und die Häuser in den nicht einsehbaren Nebenstraßen verfielen, was zu einem kuriosen Aussehen der Eckhäuser führte, denn die Seite hin zur Magistrale war in den haltbarsten Farben gestrichen, während der Putz desselben Hauses in der Nebenstraße abbröckelte. Jetzt ist es umgekehrt, die Häuser der Greifswalder Straße verfallen, und in den Seitenstraßen macht sich das neue Bürgertum hinter orange- und gelbgestrichenen Fassaden breit. Hosch interessiert sich nicht besonders für die Geschichte des Prenzlauer Bergs und für das Bürgertum erst recht nicht. Leider sind es genau sie, die neben den Touristen und Geschäftsleuten seine Hauptkunden sind.
Hosch beobachtet einen Mann in dunkler Kleidung, der vom Eingangstor des Friedhofes direkt auf ihn zugeht. Auch der sieht aus wie der Tod auf Latschen, Hoschs Alter ungefähr, der Oberkörper leicht gebeugt. Gehört wohl auch zu dieser eigenartigen Trauergesellschaft alt gewordener Nichtsnutze.
Der Graugesichtige reißt die vordere Tür auf. »Frei?«, fragt er, und bevor Hosch nicken kann, setzt er sich neben ihn. Er hat eine Schnapsfahne. »Charité«, sagt er, »ich hab’s eilig.« Hosch beschleunigt auf sechzig und schafft es gerade noch rechtzeitig, bei Gelbrot über die Kreuzung zu kommen. »Und, Beerdigung gehabt?« Hosch weiß nicht, ob er den Typen duzen kann, deshalb vermeidet er eine Anrede. »Jo, der Sechste in knapp zwei Jahren. Sterben wie die Fliegen, die Freaks hier in der Gegend. Naja, zu viel Rock’n’ Roll in der Jugend und nach dem Mauerfall den Anschluss verpasst.« Er beugt sich leicht nach unten, um die Spitze des Hochhauses an der Mollstraße sehen zu können, das gerade abgerissen wird. »Da in dem Haus hat der Tote mal gearbeitet, in der Bibliothek, so um 1970. War die einzige geregelte Arbeit, die er je hatte. Ich war da als Piepel Leser. Hat immer tolle Tipps gegeben aus der Erwachsenenbibliothek, die wir als
Kinder eigentlich nicht benutzen durften. Kannte jedes Buch, ein manischer Leser.« – »War wohl ’n Punk, der Trauergemeinde nach zu urteilen?« – » Eher ’n Punkphilosoph in Hippiemontur, man hat das in der Gegend nicht so genau getrennt. Man war halt ’n Individuum, nicht ’n Gruppenzugehöriger mit Gruppenratsvorsitzendem. Solche Eintütungen hat nur die Stasi vorgenommen. Oder das Feuilleton, die wollen’s auch immer schön geordnet. Und dann eben am liebsten noch in erste, zweite und dritte Liga aufgeteilt. Das hat olle Blix abgelehnt, der war nicht so für Punktspiele. Sah aus wie Erich Mühsam mit Palituch. Ja, traurig, Krebs oder Schrumpfleber, das sind die bevorzugten Todesarten.«
Als Hosch um die Ecke in die Mollstraße biegt, wird ihm wieder schwindelig, und er muss das Tempo drosseln, um die Spur zu halten. »Du siehst aber auch aus, als wärst du geradewegs aus der Charité gekommen.« Der Mann schaut ihn interessiert von der Seite an. »Nee, aus dem Urban«, sagt Hosch und hätte beinahe die Fußgängerampel übersehen, wo eine sehr alte Frau
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