Walpurgistag
marschierte die Rote Armee ein. Der Hauptmann hat den Vater als Ersten nach draußen geschickt, damit er sich in Sicherheit
bringen konnte, und da hat es ihn erwischt. Vergangenheit ist Vergangenheit, auch das hier wird morgen nichts anderes als Erinnerung sein.
Ich sollte ein Likörchen trinken, denkt Gerda, und das Foto wieder aus der Kiste holen, vielleicht tritt dann Rudolf aus dem Rahmen. »Meine liebe Gerdi«, würde er sagen oder auch »Schnäuzchen«, wie er sie manchmal genannt hat, wenn er Zärtlichkeit wollte oder Nachsicht, »nimm’s doch nicht so schwer. Ziehste halt in eine andere Wohnung. Was ist so schlimm daran?«
Wenn sie nur wüsste, in welchem Umzugskarton das Foto ist.
Ja, Rudolf. Den hat sie eigentlich nur aus Mitleid genommen. Nach dem Krieg musste sie mit der Mutter den notdürftig wieder hergerichteten Laden schmeißen, da blieb kaum Zeit für Vergnügungen. Aber dann kam die Tante ihrer besten Freundin, die in der Hufelandstraße eine Bäckerei hatte, abends, als sie Marken klebten, mal schnell auf einen Schwatz vorbei. Das machte man jetzt nicht mehr so oft. Vor dem Krieg hatten sich die Geschäftsinhaber im Kiez jedes Wochenende bei Brechts getroffen, die Männer kloppten Skat, und die Frauen tratschten, während die Kinder auf den Hinterhöfen Versteck spielten und langsam größer wurden. Im Jahr 1949 waren sie in alle Winde verstreut oder tot. Besuche waren die Ausnahme. Die Bäckerstante erzählte von der Familie über ihr im Haus, deren ältester Sohn gerade aus der Gefangenschaft zurückgekommen war. »Stellt euch vor, zehn seiner schönsten Jahre hat er in Russland verbracht«, sagte die Tante. Gerda hat nur müde gegähnt, solche Geschichten kannte sie zuhauf, und sich entschuldigt, sie müsse ins Bett. »Gerda«, sagte die Tante, »da ist ein Maskenball, ich geb euch das Eintrittsgeld, aber nehmt doch bitte den Rudolf mit, der liest den ganzen Tag nur dicke Bücher und kommt nicht raus.« Gerda hatte Ja gesagt. Obwohl sie keine Lust auf Fasching hatte und schon gar nicht mit einem wie Rudolf am Hals. Der hatte noch nicht einmal was zum Anziehen. Die Tante machte aus dem Zylinder und dem Frack von Gerdas Großvater ein Schornsteinfegerkostüm zurecht. Gerda musste aus einer Serviette die weiße Blume basteln. Es war
ihr etwas unheimlich, dass die Frauen sich seiner so annahmen, sie hätten weiß Gott anderes zu tun gehabt.
Die Feier fand dann mit Heißgetränk und Karbidlampen in der Laubenkolonie Frohe Zukunft statt. Ihre Freundin und sie hatten sich vorgenommen, Rudolf mit Gerdas Cousine zu verkuppeln. Aber die schlief noch vor dem ersten Tanz am Tisch ein, und Gerda musste den jungen Mann dann den ganzen Abend unterhalten. Sie ließ sich dazu herab, mit ihm zu tanzen. Zum Glück hatte er ja noch alle Glieder am Körper. Zwei Tage später hatte sie den Mann schon fast wieder vergessen.
Die Mutter war danach komisch, fragte, ob der Abend mit Rudolf schön gewesen sei und wann er sie denn besuchen komme, und als Gerda sagte, das wisse sie nicht, drängte die Mutter darauf, dass Rudolf noch das Kostüm zurückgeben müsse. Das machte er dann auch, brachte aber nicht gleich alles zurück. Den einen Tag kam er mit der weißen Blume, den anderen Tag mit dem Zylinder, eine Woche später stand er mit der Jacke vor der Tür. Gerda hat irgendwann zu ihm gesagt: » Wissen Sie, ich hab nicht immerzu Zeit, Sie zu empfangen, ich muss Seifenmarken kleben, ich habe morgen Abgabe.« Da sagte er, da könne er ihr doch helfen.
So ist er im wahrsten Sinne des Wortes bei ihr kleben geblieben. Manchmal hat er auch Holz gehackt oder Kohlenberge in den Keller geschippt, drei Jahre, bis Gerda nachgab. 1952 haben sie geheiratet. Die Mutter hat sie nach drei Monaten aufs Wohnungsamt geschickt. Dort herrschte eine Angestellte Gerda an, sie könne doch froh sein, ein Zimmer bei ihrer Mutter zu haben und nicht bei einer neugierigen Witwe. Gerda war vor Wut heulend den Berg vom Wohnungsamt hinunter zur Kreuzung Greifswalder Straße gelaufen, wo sie unten an der Ecke vor Brechts eine Kundin traf, der ein Haus in der Danziger Straße gehörte. Da stand im Hinterhaus eine Wohnung leer, die keiner wollte, weil in Decke und Fußboden ein riesiges Loch klaffte, eine Bombe war bis in die dritte Etage durchgekracht und dort im Küchenherd stecken geblieben, ohne zu explodieren. Einen Tag später besichtigten sie die Wohnung und guckten durch das Loch im Fußboden in die Wohnung eine
Treppe tiefer, in der ein
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