Walpurgistag
anderes junges Paar am Wohnzimmertisch saß und mit den Gabeln in der Hand nach oben winkte.
Der Ausbau zog sich über Monate hin, weil das Baumaterial fehlte. Für Rudolf und sie sollte es nur eine Übergangswohnung sein, denn Gerda wollte immer ein Bad. Es hat sich nie ergeben, denn nach den damaligen strengen Maßstäben des Wohnungsamtes hatte ihre Wohnung ausreichend Quadratmeter für zwei. Ein Kind wollte und wollte sich nicht einstellen. Irgendwann war Gerda es leid, persönlich im Wohnungsamt um ein Bad zu betteln. Sie ließ den Antrag laufen. Als sie Ende der Siebziger schließlich eine Neubauwohnung in Marzahn angeboten bekamen, lehnten sie ab. Marzahn war was für Provinzler, das war doch gar nicht mehr Berlin. Berlin ging bis zur Ringbahn und nicht weiter. Schon Lichtenberg war eine Zumutung. Und jetzt kann sie sowieso nicht mehr in eine Badewanne steigen.
Vielleicht wacht sie morgen ja gar nicht mehr auf. Dann würden um sieben die Möbelpacker vergeblich klingeln. Hat sie nicht, als sie hörte, dass sie nicht in ihrer Wohnung bleiben konnte, behauptet: »Hier trägt man mich nur im Liegen und mit den Füßen voran heraus?« Wäre das nicht ein schöner Tod? Einer, der Aufmerksamkeit heischen und sie, Gerda Schweickert, in die BILD oder doch wenigstens in den Berliner Kurier bringen könnte: »Berliner Omi – vertrieben – tot!« Ihre letzte Rache.
In welcher Kiste sind überhaupt die Fotoalben? Die Reporter würden Fotos von ihr brauchen. Oh Gott, sie hat vergessen, die Kisten zu beschriften. Sie müssten das Foto aus ihrem Personalausweis nehmen. Da sieht sie aber nicht gerade vorteilhaft aus, weil an dem Tag so ein Wind war, der ihre Dauerwelle durcheinandergebracht hatte.
Aber eigentlich will sie noch nicht sterben. Das hätten die bestimmt gerne, sie stirbt, und die könnten ohne Rücksicht auf Verluste die Wohnung ausräumen. Nichts da! Sie, Gerda Schweickert, bleibt hier. So ’n Quatsch, Selbstmord!
Ich hätte Lust, jemanden zu ermorden, denkt Gerda Schweickert. Ich würde das lange Fleischmesser nehmen und mich langsam
mit Hausschuhen und im Nachthemd die Treppe runterschleichen, immer im Dunkeln an der Wand entlang. Das Treppenlicht geht schon seit Februar nicht mehr. Eine pädagogische Maßnahme der Hausverwaltung, um nicht Schikane zu sagen – sie sollten einfach schneller ihre Endumsetzungsverträge unterschreiben. Endumsetzung, so eine Frechheit, als wären wir Blumen, die man umtopfen kann. Ich will eine Primel sein, lachsrot, denkt Gerda Schweickert. Trotzdem, da kann’s noch so dunkel sein, ich weiß genau, in welcher Etage ich bin. Als die noch Quark im Schaufenster waren, bin ich hier schon die Treppen rauf und runter.
Hier oben in der vierten Etage ist die Wand schön glatt, bis auf den abgeplatzten Putz am Treppenabsatz, da war Rudolf mit der Anrichte dagegengekommen, als sie die Mitte der Sechziger rausgeschmissen hatten. Eins drunter ist die Wand nicht mehr feucht und kühl, da kommen die Plakate, die eine Vorvorvornachbarin angeklebt hat. Theaterplakate, so schöne gibt es gar nicht mehr. Der Typ, der sich gerade die runde Brille aufsetzt, war das nicht Bertolt Brecht, leuchtet, weil der Mond heute Nacht genau auf seine Stirn scheint. Abnehmender Mond, vor drei Tagen war Vollmond. Eine halbe Treppe tiefer kommt die krisselige Wand. Die blüht schon, seit sie hier eingezogen sind. Im zweiten Stockwerk muss sie aufpassen, da steht die Tür auf, aber das riecht sie, da stinkt es seit Wochen nach Pisse. Früher hat Frau Brade immer sehr darauf geachtet, dass keiner von Brechts Kunden auf dem Nachhauseweg im Hausflur eine Stange ablegte. Wenn es doch mal einer versuchte, kam sie mit ihrem Schrubber, und so mancher hat sein Ding nicht mehr rechtzeitig in die Hose gekriegt.
Was man sich so zurechtdenkt, wenn man nicht einschlafen kann. So ein Quatsch, mit dem Küchenmesser. Das Küchenmesser hat sie zuerst eingepackt. Dreimal schön mit Zeitungspapier umwickelt, damit sich die Möbelträger beim Auspacken nicht schneiden. Eigentlich sind sie vertraglich auch zum Einpacken verpflichtet, aber die Messer verstaut Gerda Schweickert lieber selbst. Sie hat in einer Boulevardzeitung gelesen, dass Möbelpacker gerne Messer mitgehen lassen.
Was sucht sie eigentlich im Treppenhaus mit der Sternkarte? Und den Schlüssel hat sie auch nicht mitgenommen. Die Hausschuhe schlappen bei jedem Schritt von den Füßen. Gerda Schweickert verliert die Geduld und lässt sie auf dem Treppenabsatz
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