Walpurgistag
den Gehweg verlagert und ihre Person einbezieht. Also winkt sie eines der Taxis heran, die wie leuchtende Wespen in lauerndem Tempo die Allee entlangfahren. »Kurzstrecke. Wildenbruchstraße«, sagt sie beim Einsteigen. Auf dem Rücksitz liegen zwei kleine Gebetsteppiche. Ob Muslime immer einen Kompass
dabeihaben, damit sie in der Dunkelheit oder an trüben Tagen wissen, in welche Richtung sie sich wenden müssen? Sie traut sich nicht, den Fahrer zu fragen. Stattdessen dreht sie ihre widerspenstigen Haare zu einem Zopf zusammen und steckt ihn am Kopf mit einer Spange fest. Sie will einigermaßen seriös aussehen.
Als das Taxi von der Sonnenallee in die Wildenbruchstraße einbiegt, bittet sie den Fahrer zu halten und zahlt die gewünschten drei Euro. Viola Karstädt lauscht noch dem zügig sich entfernenden Motorengeräusch, dann ist es so still, dass man den Ton der blau flackernden Fernseher hinter den Erdgeschossfenstern hören kann.
Eine Schlafperformance bei Familie Schöller ist Viola Karstädts Aufgabe in den nächsten acht Stunden. Ein besserer Name ist ihr nicht eingefallen für die Tätigkeit, der sie entgegensieht. Das Ganze soll ein Theaterexperiment sein. » Theater auf Rädern zu Gast in Neukölln.«
Vor zwei Tagen war sie aus Neugier mit dem 141er-Bus am Haus ihrer zukünftigen Herbergsfamilie vorbeigefahren. Was ihr dabei auffiel: dass es hier viele Parkplätze gibt und die wenigen Autos schon etwas älteren Datums sind. Jetzt in der Dunkelheit wirkt das Mietshaus heruntergekommener, als Viola Karstädt es in Erinnerung hat. Der Nachkriegsputz ist verwittert, kurz über dem Fundament hat die vom Keller aufsteigende Feuchtigkeit die Zementschicht aufgewölbt und in Höhe der Erdgeschossfenster einen weißen Wasserrand hinterlassen. Eine Klingelanlage gibt es nicht. Die Scheibe der Eingangstür ist zerbrochen, lange Scherben ragen aus dem Kitt hinter dem Schmuckgitter.
Wenn abgeschlossen ist, kehre ich um, denkt Viola Karstädt und drückt auf die Klinke. Sie gibt nach. Wider Erwarten findet sie den Lichtschalter sofort. Das Licht im Treppenhaus ist spärlich, sie schätzt die Stärke der Birnen auf fünfzehn Watt, wahrscheinlich stecken sie seit der Berlin-Blockade in den Fassungen der Lampen, die noch aus der Zeit der Elektrifizierung stammen. Wenn das Licht nicht bis zum dritten Stock reicht, kehre ich um. Wenn ich mit dem Schienbein oder dem Fuß gegen Gerümpel stoße, kehre ich um. Mit Absicht stolpern gilt nicht. Die Kinderwagen sehen
einigermaßen vertrauenerweckend aus, obwohl jeder mit zwei bis drei Schlössern gesichert ist. Es riecht streng. Die Stufen knarzen. Wenn jemand die Tür aufmacht, frage ich, ob hier im Haus Karstädt wohnt. Wenn sie keine Karstädts kennen, kehre ich um. Bis zur dritten Etage macht niemand die Tür auf, das Licht bleibt an, und eine zwei Fuß breite Schneise zwischen dem Gerümpel verhindert, dass Viola Karstädt über den Müll fällt.
Sie bleibt einen Moment auf dem Treppenabsatz stehen, atmet tief durch und lauscht auf die Geräusche des Hauses – ein greinendes Kind, eine Spülung, eine Waschmaschine, wabernde Stimmen und Musikfetzen und dann Schüsse, die, so hofft Viola, aus einem Fernsehapparat kommen. Die Ölfarbe ist an vielen Stellen des Treppenhauses abgeblättert. Ist es nicht eine Schnapsidee, bei einer wildfremden Familie mit drei kleinen Kindern zu übernachten? Soll sie sich nicht lieber um ihre eigene Familie kümmern, die nicht mehr als ein mit groben Stichen zusammengefügter Patchworkteppich ist? Muss man um jeden Preis der Welt die Kunst in die Realität tragen? Ist Neukölln nicht gerade wegen des Fehlens von Kunst so bei sich? Hat es überhaupt Sinn, diese Fragen jetzt noch zu stellen? Wahrscheinlich werde ich im Schlaf überfallen und abgemurkst. Recht so, was habe ich hier auch zu suchen?
Dritte Etage links, hat die Frau am Telefon gesagt. Der angepinnte Zettel, auf dem in ungelenken Buchstaben »Schöller« geschrieben steht, gibt ihr recht. Viola Karstädt führt fast wie in Zeitlupe den linken Zeigefinger an die Klingel. Wenn sie nicht funktioniert, kehre ich um. Überlaut schallt der harsche Klingelton durch das Treppenhaus.
Ein junger Mann in weißem Jogginganzug öffnet die Tür einen Spalt. Er sieht nicht misstrauisch aus, eher müde. »Viola Karstädt ist mein Name, wir haben telefoniert, ich bin die vom Theater«, sagt sie, eine Nuance zu viel Freundlichkeit in der Stimme. Der Mann gibt schweigend die Tür frei und
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