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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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der zweiten Etage stehen. Auf nackten Füßen läuft sie rückwärts Stufe um Stufe weiter wie auf einer Leiter nach unten, sich mit der rechten Hand am Umlauf des Treppengeländers festhaltend. Sie kommt nur mühsam voran.
    Allzu oft wird sie die Treppe nicht mehr hoch- oder runtergehen, vielleicht noch zwei-, dreimal, um besonders wertvolle Stücke zum Möbelwagen zu bringen. Sie kennt auch hier unten noch jede Delle und Unebenheit auf den Stufen, jedes Loch im Linoleum und das Schild »Vorsicht. Frisch gebohnert« auf der fünften Stufe der ersten Treppe. Bohnern, fand Rudolf, war ein ziemlich schweinisches Wort, und wenn keiner hinschaute, griff er ihr manchmal an den Hintern, und sie sagte jedes Mal: »Vergiss die Türspione nicht.« – »Ist doch schön, wenn die ganzen alten Schachteln mal was Lebendiges sehen.« Bis sie selber eine alte Schachtel war.
    Als sie einzogen, hat Frau Brade noch jeden Dienstag mit dem Bohnerbesen auf dem Treppenabsatz gestanden und den Klatsch in den Etagen verteilt. Und wie hat die herumgewundert, als Rudolf sie, Gerda, nach der Trauung die Treppe hinaufgetragen hat, alle vier Etagen, ohne einmal abzusetzen. So ein guter Mann! Dabei hatte er das lange geübt und nur einmal geschafft. Heute ist es auf den Tag genau fünfzig Jahre her. Wie ungerecht das Leben sein kann. Ausgerechnet heute.
    Gerda Schweickert ist im Erdgeschoss angelangt und tastet sich an den Briefkästen entlang. Aus den meisten quillt Werbung, andere stehen sperrangelweit offen. Hier unten riecht es nach Einkellerungskartoffeln, Kohlen und Kohlsuppe, ein Geruch, den sie in dem Neubau, in den sie morgen zieht, vermissen wird. Sie öffnet die Haustür und steht im Mondlicht.
    Jetzt fällt es ihr wieder ein. Hoffmanns Gardinenstärke – so hieß das Mittel. Benutzt heute niemand mehr. Wo gibt es denn
überhaupt noch Fachdrogerien? In unserem Viertel jedenfalls nicht mehr. Unser Viertel, das muss sie sich auch noch abgewöhnen. Das neue da oben wird jedenfalls nicht ihres.
    Gerda Schweickert tritt in die Mitte des Hofes und legt den Kopf in den Nacken. Sie liebt diesen Blick in das Viereck der Hoffassaden. Mittendrin schwimmen die Sterne. Wenn sie als Kind mit den anderen neben den Mülltonnen spielte, hatte sie sich oft gedreht wie eine Eiskunstläuferin bei der Pirouette, weil sie es mochte, wenn die Fenster wie Karussellfiguren an ihren Augen vorbeihuschten.
    Sie bewegt sich um die eigene Achse, so schnell sie kann, und mit ihr dreht sich der Große Wagen. Ein Supercrash am Himmel. Das Wort Crash kennt sie noch nicht lange, aber es ist eins, das sie mag. Vielleicht hat es auch etwas für sich, sich von Dingen zu trennen, deren Zeit einfach abgelaufen ist. Sie versucht, die Sternkarte zu zerreißen. Das Material ist widerspenstig. Sie muss erst die Ebenen voneinander trennen. Den Papphimmel wirft sie in die blaue Tonne und die Koordinaten aus Kunststoff in die gelbe. Eine Wolke schiebt sich über die Deichsel des Großen Wagens. Gerda Schweickert spürt die Kälte an den Füßen.

0.15 Uhr
In einem Neuköllner Mietshaus sieht Viola Karstädt zu, wie die Realität die Kunst beim ersten Schritt über die Schwelle frisst
    Sie tritt ein Stück von der Laterne weg und schaut in den Himmel. Zwischen Wolkenfetzen blinken ein paar Sterne. Eigentlich kenne ich nur zwei Sternbilder, denkt Viola Karstädt, den Großen Wagen und die Kassiopeia, findest du das eine, findest du das andere auch. Der Himmel ist dabei, sich zuzuziehen. Die Wolken haben schon die Deichsel des Großen Wagens erreicht. Er steht kopf in Richtung Westen. Aber wo ist der Westen in Berlin? Eine Frage der Definition. Ich stehe im Westen und schaue nach Westen, der irgendwann zum Osten wird.
    Für eine Großstadt ist es ziemlich still hier in Nordneukölln. Die Gehwege sind mit schlesischen Schweinebäuchen aus Granit gepflastert. Das ist Viola Karstädt vertraut. Sonst nichts. Viola Karstädt war noch nie um Mitternacht in dieser Gegend. Dabei ist sie mit der Ringbahn nur zwanzig Minuten von der Station Schönhauser Allee bis Sonnenallee gefahren. Jetzt steht sie in Sichtweite des S-Bahnhofs an der Bushaltestelle. Laut Fahrplan ist der erste Nachtbus gerade weg, der nächste kommt erst in fünfundzwanzig Minuten. Sie bemerkt in der kleinen Grünanlage neben der Bushaltestelle ein paar Gestalten, die in gepresstem Ton miteinander streiten. In welcher Sprache, kann sie nicht verstehen. Könnte immerhin passieren, dass sich der Streit aus der Grünanlage auf

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