Walter Ulbricht (German Edition)
einen ›roten Bischof‹. Das ist recht so. Denn es gibt auch ein ›Rotes Kreuz‹ – und das bringt Hilfe!«
Bei dieser zweistündigen Begegnung, so Walter Ulbricht später, habe ihn der Kirchenmann auch gebeten, »Besuche von Personen im Rentenalter bei ihren Verwandten in der westdeutschen Bundesrepublik und im besonderen Gebiet Westberlin und umgekehrt« zu erlauben. Er sagte zu, »dass Ihre Anregungen von unserer Seite sofort geprüft werden«. Wie Ulbricht drei Wochen nach dieser Begegnung in einem Schreiben an Mitzenheim mitteilte, habe sich die DDR-Regierung »mit der Sache beschäftigt« und den Innenminister angewiesen, solche Besuche zu ermöglichen. »Hochachtungsvoll W. Ulbricht.«
Seit dem 2. November 1964 hatten die damals rund drei Millionen DDR-Rentner für insgesamt vier Wochen in jedem Jahr die Möglichkeit, »in den Westen« zu fahren.
Bischöf Schönherr, wie gesagt, nahm den Gesprächsfaden wieder auf, er traf sich 1978 mit Ulbrichts Nachfolger im Amt des Staatsratsvorsitzenden.
Das alles hat mit der Begebenheit, die ich erzählen möchte, nichts zu tun. Ich wollte damit aber sichtbar machen, dass selbst in ganz kleinen Orten wie Brüssow, in denen es heute mangels Kinder nur noch winzige Grundschulen gibt, sich mitunter doch auch große Geschichte spiegelt, aus der sich manches ableiten und lernen lässt. Ich glaube, ich habe dies als Lehrer ein wenig vermitteln können, was ich mit Befriedigung auch aus den vielen Einladungen zu Klassentreffen ersehe, die mich erreichen. Inzwischen kommen dort Großeltern und Urgroßeltern zusammen, die ich einst als Lehrer auf ihrem Weg ins Leben begleitete.
Im Mai 1970 war ich Teilnehmer des VII. Pädagogischen Kongresses in Berlin. Zusammenkünfte dieser Art fanden in großen Abständen statt. Ihnen oblag es, die Richtung der Schulentwicklung in der DDR nach gründlicher Diskussion der herangereiften Probleme zu einem gewissen Abschluss zu bringen. Die Diskussionsphase zur Vorbereitung dauerte meist drei bis vier Jahre in den Schulen und wurde im Wesentlichen über die Gewerkschaft Bildung und Erziehung und das Pädagogische Kreiskabinett, das dem Kreisschulamt nachgeordnet war, gesteuert.
Die Zahl der Delegierten je Kreis betrug fünf bis zehn. Die Schulkollegien, aus denen gemäß Quote ein Lehrer bzw. eine Lehrerin zu entsenden waren, entschieden darüber in offener Abstimmung. Aus dem Kreis Pasewalk kamen fünf Pädagogen, an drei kann ich mich noch entsinnen: Kollegin Melzer, die Kollegen Lewin und Belz, dazu noch jemand und ich.
So kamen denn etwa anderthalbtausend Delegierte in der Berliner Dynamo-Sporthalle zusammen, auf den Rängen hatten die ausländischen Gäste und die Presse Platz genommen. Die Volksbildungsministerin 2 hielt das Hauptreferat. Darin äußerte sie sich über Themen vom Kindergarten bis zum Abitur, weiter bis zu den Hochschulen, vom Unterricht in den Klassen der Unterstufe über den Fachunterricht in allen Wissensbereichen der sich ausprägenden zehnklassigen Polytechnischen Oberschulen bis hin zum Studium an den Instituten für Lehrerbildung und den Hochschulen, die die Fachlehrer auf den Unterricht vorbereiteten. Nichts wurde ausgespart. Selbst Schulspeisung, Trinkmilchversorgung und die medizinische Betreuung der Kinder in den Einrichtungen fanden angemessene Beachtung. Die Ministerin, so schien es, besaß ein realistisches Bild vom Alltag in den Klassen- und Lehrerzimmern. Breit wurde die produktive Arbeit der Schüler ab Klasse 7 in den Betrieben beleuchtet, auf jede vermeintliche Wunde wurde der Finger gelegt und jede nützliche Neuerung zur Nachahmung empfohlen.
Das war der allgemeine Tenor, den wir aufnahmen.
Walter Ulbricht saß an den vier Kongresstagen im Saal und verfolgte aufmerksam die Debatte. Nur selten war sein Platz im Präsidium frei. Als ihm der Tagungsleiter am letzten Tag das Wort erteilte, schien die Halle vor Spannung zu platzen.
Der 76-Jährige überwand die wenigen Stufen zum Rednerpult sichtlich schwerfällig, als ob er gehbehindert sei. Seine ersten Sätze wurden wiederholt von Hustenanfällen unterbrochen, er wirkte gesundheitlich angeschlagen und unsicher. Doch nach einigen Minuten hatte er sich gefangen, seine Stimme wirkte fester, er hatte seinen Rhythmus gefunden. Es folgte ein anderthalbstündiger Exkurs über deutsche Geschichte, die Lektion eines altersweisen Staatsmannes, die alle im Saal berührte. Ulbricht skizzierte den Weg des Kampfes der unterdrückten Schichten des deutschen
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