Walter Ulbricht (German Edition)
Rechtswissenschaft beruht darauf, dass die Hauptfrage, die Frage der politischen Macht, nicht zur Grundlage der gesamten Arbeit genommen wird«. Viele Wissenschaftler würden zwar die Beschlüsse der Partei für ihr persönliches Verhalten und ihre politische Einstellung akzeptieren, nicht aber für ihre Wissenschaft. »In Wahrheit aber schaffen die Beschlüsse der Partei die Grundlage der Staats- und Rechtswissenschaft.«
Damit war ausgesprochen, um was es wirklich ging: die Parteibeschlüsse als oberste Richtschnur von Wissenschaft durchzusetzen und die machtnahe Rechtswissenschaft zum bloßen Instrument dieser Macht zu degradieren. Für wissenschaftliches Schöpfertum war da kein Raum mehr.
Als junger Parteisekretär und Aspirant an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität nahm ich Ulbrichts Auftrag ernst, dass »die Parteiorganisationen systematisch und ständig den Kampf gegen alle opportunistischen, revisionistischen und anderen versteckten bürgerlichen Ideologien in der Arbeit unserer Staats- und Rechtswissenschaft organisieren sollen«. Auf der Konferenz hielt ich einen scharfen Diskussionsbeitrag. Unter meiner Verantwortung wurden an der Fakultät in der Folgezeit endlose »kritische und selbstkritische« Auseinandersetzungen und die Parteiverfahren durchgeführt, die mit einer Strengen Rüge für Hermann Klenner und Bernhard Graefrath und mit einer Rüge für Uwe-Jens Heuer endeten. »Zwecks Erziehung in der Praxis« wurden Klenner und Graefrath als Bürgermeister von Gemeinden im östlichen Berliner Umland und Heuer am Berliner Vertragsgericht eingesetzt. Auch wenn es nur eine befristete Verbannung war: Dessen rühme ich mich nicht.
Zum vierten Mal erlebte ich WU im Zusammenhang mit der 3. Hochschulreform (1968 bis 1970). Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass er der Spiritus rector der Reform war. Sein Anteil ist später totgeschwiegen worden. Konzeptionelle Überlegungen und Zielstellungen waren von ihm schon auf dem VI. Parteitag der SED 1963 entwickelt worden und fanden Aufnahme im neuen Parteiprogramm. Dort wurde eine weitere »Umgestaltung des Fach- und Hochschulstudiums« mit dem Schwerpunkt »Einheit von wissenschaftlicher Ausbildung« und »der wissenschaftlich-produktiven Tätigkeit der Studenten« proklamiert.
Bei der 3. Hochschulreform ging es um eine Erneuerung der Universitäten, Hoch- und Fachschulen, die dem entsprach und dem diente, was damals umfassender Aufbau des Sozialismus und Gestaltung des Sozialismus als entwickeltes gesellschaftliches System genannt wurde.
Die Hochschulreform stand im direkten Zusammenhang mit dem Neuen Ökonomischen System, das WU in den 60er Jahren angekurbelt hatte. Er erklärte damals, »dass die 3. Hochschulreform ein notwendiges und wichtiges Glied in der Kette der Maßnahmen zur Gestaltung des entwickelten Systems des Sozialismus ist, und zwar in doppelter Hinsicht: Sie ist einmal notwendig, um die realen Bedürfnisse unserer Gesellschaft, insbesondere der Wirtschaft nach einer weiteren Entwicklung der Produktivkräfte zu befriedigen, das heißt, die Hochschulreform ist erforderlich, um das ökonomische System des Sozialismus zu realisieren und auf seiner Grundlage die wissenschaftlich-technische Revolution zu vollziehen.
Zum zweiten – das ist ebenso wichtig – brauchen wir die Hochschulreform, um die sozialistische Menschengemeinschaft zu schaffen, in der sich die Werktätigen zu allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten entwickeln und entfalten können.« Die Hochschulreform sei »ein ständiger und lang andauernder revolutionärer Prozess«. Damit setzte Ulbricht hohe Maßstäbe, denen m. E. die Praxis des sozialistischen Aufbaus nicht nachkommen konnte.
Die Reform wich vom sowjetischen Modell nicht weniger ab als das Neue Ökonomische System. Im Grunde war sie eine Kritik an wesentlichen Seiten des mit der 2. Hochschulreform übernommenen sowjetischen Vorbilds.
Die Hochschulreform fiel in die Periode Ulbrichtscher Politik, in der er versuchte, DDR-eigene Wege zu gehen. Die Partner in Moskau beobachteten darum unsere Hochschulreform misstrauisch, aber sie haben sie nicht behindert oder gar auf Abbruch gedrängt. Das erfuhr ich bei meinen Besuchen in der Sowjetunion und auch als Gastgeber sowjetischer Amtskollegen in der DDR. Jedenfalls erfolgte keine direkte Einmischung.
Das lag wahrscheinlich daran, dass die Hochschulpolitik für die östliche Vormacht nicht wichtig genug war, um auf diesem Gebiet Einspruch zu
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