Wandel
nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Dann war das hier also nicht die Realität, sondern ein Traum. Oder eine Sinnestäuschung. Oder sonst etwas aus dem Bereich zwischen der Welt der Sterblichen und dem Reich des Spirituellen. Im Grunde ganz logisch: Mein eigentlicher Körper lag still und friedlich vor sich hin atmend auf dem Spineboard im Abstellraum von St. Mary, und mein Geist war hier.
Wo immer „hier“ sein mochte.
So langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. In der Luft hingen Dunst und zarter Nebel, oben am Himmel ließen schnell ziehende Wolken hier und da einen Strahl Mondlicht durch, der dann flutlichtgleich über die Felslandschaft um mich herum und die uralte Steinplatte neben mir huschte. Das Mondlicht ließ überall am Rande des Steintisches tief eingegrabene Runen aufleuchten, die unter seiner Berührung beinahe zu tanzen schienen. Die uralte Schrift einer Sprache, die ich nicht kannte.
Endlich kapierte ich es: Mab hatte diesen Ort für unser Treffen ausgewählt, sie hatte ihn erschaffen. Er war als Tal des Steintisches bekannt, ein breites, wie eine Schale geformtes Tal, in dessen Mitte ein etwa vier Meter hoher Erdwall von ungefähr fünfzehn Metern Durchmesser aufragte. Oben auf dem Wall dann der Tisch, eine von vier stumpfartigen Säulen getragene Steinplatte. Weitere Steine standen im Kreis um den Tisch herum, manche umgestürzt, andere geborsten, nur einer aufrecht wie die Steine von Stonehenge. Die Steine strahlten schwach in allen möglichen Schattierungen von Blau über Lila bis zu sehr dunklem Grün. Kalte Farben.
Winterfarben.
Gut – das passte. Die Tagundnachtgleiche war um. Der Tisch befand sich in der Domäne des Winters. Er war ein archaischer Kraftleiter, so geworden auf die urtümlichste, atavistischste Art – durch Blut. Seine Oberfläche war voller Kratzer und Vertiefungen, voll dunkler, alter Flecken, und er thronte auf dem Hügel wie eine Schnappschildkröte, geduldig und hungrig und reglos. Wartete darauf, dass warme, lebendige Wesen ihm zu nahe kamen.
Blut, das auf diesen Tisch floss, trug die Kraft des geraubten Lebens in sich und ergoss sich in den Brunnen der Kraft, den die Winterkönigin kontrollierte.
Auf der anderen Seite des Tisches bewegte sich etwas. Einer der Schatten dort schien sich zu verfestigen. Was eben noch wie feiner Nebel gewirkt hatte, wurde zu einer schlanken, weiblichen Gestalt in einem Umhang mit großer Kapuze. Unter der Kapuze, da, wo man die Augen vermuten würde, flackerten zwei glitzernde, grüne Kerzen.
Mein Mund war staubtrocken. Ich brauchte zwei Ansätze, ehe ich mich bemerkbar machen konnte. „Königin Mab?“
Die Gestalt verschwand. Im Nebel rechts von mir frohlockte leise eine Frau. Ich wandte mich dem Lachen zu.
Keine zehn Zentimeter hinter meinem Kopf schrie eine wütende Katze – ich wäre vor Schreck fast aus den Latschen gekippt. Ich fuhr herum – nichts. Nur das Lachen der unsichtbaren Frau hallte um den nebelverhangenen Hügel.
„Das gefällt dir, was?“, rief ich. Das Herz schlug mir bis zum Halse. „Du hast es mir ja gleich gesagt, nicht?“
Gedämpfte Stimmen huschten zwischen den Steinen umher. Ich verstand kein Wort. Dann waren da wieder die spöttisch flackernden grünen Augen.
„Mein Angebot gilt nicht ewig!“ Ich bemühte mich um einen strengen Ton. „Ich tue es, weil die Umstände mich dazu zwingen. Setz deinen königlichen Arsch in Bewegung und greif zu, sonst bin ich weg.“
„Ich habe dich gewarnt“, sagte hinter mir eine leise Stimme. „Ich sagte dir, du dürftest dich nie von ihr hierherbringen lassen, Patensohn.“
Mit Mühe und Not unterdrückte ich einen Aufschrei – ein Magier kreischte nicht. Ich holte tief Luft und wandte mich um. Hinter mir, nur ein paar Meter entfernt, stand die Leanansidhe. Ihr Cape hatte die Farbe der Dämmerung kurz vor Einbruch der Nacht: dunkelblau, fast lila. Es bedeckte sie von oben bis unten, bis auf das blass unter der Kerze hervorlugende Antlitz. Die grünen Katzenaugen waren weit geöffnet und musterten mich ernst und gelassen.
„Aber jetzt bin ich hier“, sagte ich leise.
Sie nickte.
Neben ihr tauchte noch ein Schatten auf, der mit den flackernden grünen Augen. Königin Mab – denn das war sie ja wohl – war ein paar Zentimeter kleiner als meine Patin. Aber natürlich konnte Mab sich aussuchen, wie riesig oder zwergenhaft sie sein wollte. Besonders an einem Ort wie diesem hier.
Sie kam etwas näher, immer noch von Schatten
Weitere Kostenlose Bücher