Wandel
unter erheblichem Gesichtsverlust zu leiden gehabt. Dazu noch meine nicht nachlassenden Attacken gegen die Roten und ihre Verbündeten – natürlich hatte sie alles daransetzen müssen, mir endlich zu zeigen, wo ich hingehörte. Ihr Plan war gut, ein einziger Fluch hätte ein wichtiges Mitglied des Ältestenrats ausradiert und den Schwarzstab gleich mit – viel Ruhm, viel Ehr. Auch mit meinem Tod hätte sie sich brüsten können, immerhin hatte es bislang niemand fertiggebracht, mich zu töten, obwohl es nicht an Versuchen gemangelt hatte. Außerdem hatte ich nach Donald Morgans Tod wohl Anspruch auf den Titel des gefürchtetsten Wächters des Rates.
Was für ein Coup – und hätte sie die Sache durchziehen können, hätte danach wohl der nächste angestanden, der Staatstreich.
Aber das mit dem großen Coup galt natürlich auch für den Roten König, hielt er erst mal das Messer in der Hand: tote Feinde, jede Menge Prestige und ein ungefährdeter Thron. Eine todsichere Sache.
Feixend zog er das Obsidianmesser aus meiner Schärpe, feixend wandte er sich dem Altar und meiner Tochter zu.
„Lieber Gott“, dachte ich. „Denken, Dresden, denken!“
Ich kann nur hoffen, dass Gott mir eines Tages die Idee vergibt, die ich als Nächstes ausbrütete.
Ich selbst werde das nie können.
Ich wusste, wie wütend Susan war. Ich wusste, welche Angst sie hatte. Vor ihr, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, lag ihr Kind und sollte abgeschlachtet werden. Aber was ich ihr antat, war so gut wie Mord.
Noch einmal konzentrierte ich meine Gedanken in Susans Richtung. „Susan. Denk nach! Wer wusste, wer der Vater des Kindes war? Wer hätte es ihnen sagen können?“
Sie bleckte die Zähne.
„Seine Machete kann dir nichts anhaben“, dachte ich weiter. Obwohl ich verdammt genau wusste, dass keine Magie der Feen eine Begegnung mit Stahl einfach fröhlich ignorieren konnte.
„Martin?“, fragte Susan mit tiefer, sehr leiser Stimme. „Hast du ihnen von Maggie erzählt?“
Martin schloss die Augen. „Ja.“
Susan Rodriguez verlor den Verstand.
Gerade noch war sie eine hilflose Gefangene gewesen, mit zurückgerissenem Kopf und einer scharfen Klinge am Hals – jetzt wand und schlängelte sie sich wie ein Aal, so schnell, dass man einzelne Bewegungen nicht mitkriegte. Martins Machete schnitt eine tiefe Wunde in ihren Hals, aber das beachtete sie ebenso wenig wie sie beim Wandern den Angriff einer Brombeerranke beachtet hätte.
Martin hob die Hand, um den Schlag abzuwehren, mit dem er fest rechnete. Aber Susan hatte nicht vor, mit Fäusten gegen ihn vorzugehen.
Sie ging auf seine Kehle los. Die Augen voller Dunkelheit und Wut, den Mund zu einem Schrei geöffnet, der die entblößten Fangzähne zeigte.
Martin sah mich an, ganz kurz nur, aber es reichte: Ich spürte den Seelenblick beginnen, sah seinen Schmerz, seine Trauer um das Leben eines Sterblichen, das er verloren hatte. Ich sah seine echte Hingabe an den Roten König als glatte Marmorstatue, die liebevoll poliert war, sah, wie sich seine Seele im Laufe der langen Jahre verändert hatte, wie er seinen Glauben, die Hingabe an seinen Dienst verlor. Ich sah ihn unter denen leben, die sich dem Kampf gegen den Roten König und sein Reich verschrieben hatten, sah, wie die Statue des Königs Flecken bekam, je mehr Martin begriff, dass dieses Reich den Menschen nur Schrecken und Unglück brachte – und noch eins sah ich: Als er diesen Tempel betrat, hatte er gewusst, dass er ihn nicht lebend verlassen würde. Er hatte es gewusst und war zufrieden damit.
Martin – es gab nichts, was ich hätte tun können, um zu verhindern, was jetzt geschah. Vielleicht wollte ich es ja auch gar nicht verhindern. Martin hatte eigenen Angaben zufolge Jahrzehnte gebraucht, um sich in der Bruderschaft von St. Giles so fest zu verankern, dass er sein Doppelspiel spielen konnte. Aber noch länger hatte er an seinem Plan zum Sturz des Roten Königs gearbeitet. Martin war Priester gewesen, er wusste um den Blutlinienfluch und dessen Zerstörungspotenzial. Er musste auch gewusst haben, dass die Angst um Maggie und die Entdeckung, vom engsten Gefährten betrogen worden zu sein, Susan in den Wahnsinn treiben würde.
Martin würde alles tun, um dem Roten Hof Schaden zuzufügen, das hatte er mir praktisch gleich nach seiner Ankunft in Chikago mitgeteilt. Er hätte mich in den Rücken geschossen, wäre das zweckmäßig gewesen. Er hatte Maggie an mordlüsterne Barbaren verraten, er würde die
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