Wandel
„Kann ich auf dich zählen?“
Sie legte beide Hände flach auf den Tisch, während sie überlegte, studierte sie eingehend und musste anscheinend langsam bis fünf zählen, ihre Worte sorgsam überdenken, ehe sie mir antwortete. „In einer Schlacht bin ich nicht mehr das, was ich früher war.“
Ich knirschte mit den Zähnen. „Dann bleib doch hier sitzen, wo es warm und sicher ist.“
Zum ersten Mal seit unserer Begegnung im Ostentatorium flammte in Anastasia Luccios dunklen Augen Zorn auf und erinnerte mich daran, dass diese Frau seit Jahrzehnten den Oberbefehl über die Wächter führte. Die Luft zwischen uns wurde immer heißer. Buchstäblich. „Denk ganz genau nach“, sagte sie sehr leise. „ehe du mich einen Feigling nennst.“
Seit die strenge Kommandantin mit dem stahlgrauen Haar unter dem Einfluss von Magie in den Körper einer Studentin kurz vor dem Examen umgesiedelt worden war, hatten ihre Kräfte deutlich abgenommen – ihr Grips und ihre Erfahrung jedoch nicht. Ich hatte jedenfalls nicht vor, mich mit Luccio auf ein magisches Armdrücken einzulassen, um herauszufinden, wie es um unsere jeweiligen Kräfte bestellt sein mochte. Außerdem hatte ich sie seit damals schon diverse Male bei Kämpfen erleben dürfen.
Die Wut in mir drohte überzuschwappen und sich über Anastasia zu ergießen, aber das hatte meine alte Freundin nicht verdient. Also schluckte ich meinen Zorn runter, verstaute ihn wieder dort, wo er momentan hingehörte, und hob entschuldigend die Hand. Anastasia Luccio mochte vielerlei sein, aber ganz gewiss kein Feigling – und sie stammte aus einer Zeit, in der man Leute zu Duellen gefordert hatte, wenn sie einen Feigling genannt hatten.
Nein, danke.
Anastasia schien besänftigt, die Anspannung wich aus ihren Schultern. „Ich wollte sagen, ich kann dich von hier aus besser unterstützen. Ich kann Informationen zusammentragen, mich umhören, Ressourcen ausgraben, die dir nützlich sein könnten. Natürlich solltest du kämpfen, aber du kannst erst kämpfen, wenn du das Mädchen gefunden hast, und ein paar von unseren Leuten werden großes Interesse daran haben, während des Friedensprozesses nicht von dir gestört zu werden. An denen kann ich mich vorbeilavieren, wenn ich von hier aus tätig bin.“
Jetzt war ich an der Reihe, eingehend meine Hände zu betrachten, allerdings tat ich es, weil die ganze Sache langsam peinlich wurde. Wie konnte es sein, dass Anastasia klarer dachte als ich? „Ich hatte überhaupt nicht bedacht, was … danke, Ana.“
Sie neigte den Kopf. „Gern geschehen.“
„Das war unnötig.“ Ich kratzte mich am Kopf. „Meinst du, du kannst den Merlin zurückhalten?“
Sie zog beide Brauen hoch.
„Es wundert mich eigentlich, dass er nicht gleich im Ostentatorium seine Kapuze heruntergerissen und mich angebrüllt hat. Ich dachte, gleich ist es soweit, und er fordert michzum Duell. Der bleibt doch auf keinen Fall ruhig auf seinem Arsch hocken, wenn er mir eins …“ Als ich mitbekam, wie Mollys Augen groß wie Untertassen wurden, legte ich eine Pause ein. Mein Lehrling fixierte einen Punkt irgendwo hinter meinem Kopf. Ich drehte mich um.
Hinter mir glitt gerade ein Wandgemälde langsam zur Seite, und zum Vorschein kam die dahinterliegende Tür, die sich leise öffnete. Der Magier, der in den Sorgenraum trat, glich aufs Haar der Kinoplakatversion des berühmtesten Zauberers aller Zeiten. Der Merlin hatte sich zu uns gesellt.
Arthur Langtry war einer der ältesten und mit Abstand der mächtigste Magier im Weißen Rat. Er trug Haar und Bart lang, beides schneeweiß mit ein klein wenig Silber darin und perfekt frisiert. Seine Augen, denen so schnell nichts entging, zeigten das helle Blau eines Winterhimmels. Sein Gesicht war länglich und schmal, die Gesichtszüge edel und ernst.
Dieser Merlin des Weißen Rates hatte sich in schlichte, weiße Roben gehüllt. An der Hüfte trug er etwas, das mich immer an einen Revolverheldengürtel aus weißem Leder erinnerte. Eigentlich sah es aus wie die Nachbildung der Kampfausrüstung für Agenten der Spezialeinheiten, nur dass sich statt Waffen und Munition in den einzelnen Lederbehältern Tiegel und Fläschchen mit Zaubertränken befanden. Aus einem der Holster ragte der mit Leder umwickelte Griff eines Stabes, bei dem es sich entweder um einen zu kurz geratenen, leicht anämischen Kampf- oder um einen etwas zu dick geratenen Zauberstab handelte. Außerdem hingen an dem Gürtel noch mehrere zugeschnürte
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