Wandel
einfach nur jemanden, der ihnen zeigt, wie sie zurückfinden können.“
„Ja, und während man damit beschäftigt ist, diese feinen Unterscheidungen zu treffen, kommen mal so nebenbei jede Menge Leute ums Leben, Miss Carpenter“, erwiderte Anastasia ganz offen und eher sanft. „Seit etwa zweihundert Jahren vermehrt sich die Menschheit mit unglaublicher Geschwindigkeit. Immer mehr Menschen mit einem gewissen Maß an Magiebegabung kommen zur Welt. Jedesmal, wenn einer von denen zum Hexer wird, müssen wir uns damit befassen, haben dafür jedoch immer weniger Zeit und nicht annähernd genug Hilfe.“
„Prävention!“, sagte ich. „Findet die Leute früh genug, und sie werden gar nicht erst zu Hexern.“
„Ressourcen.“ Anastasia seufzte: Wir führten diese Unterhaltung nicht zum ersten Mal. „Auch wenn der gesamte Rat nichts anderes täte, als sich ausschließlich Wächteraufgaben zu widmen, würden unsere Kräfte nicht reichen.“
„Erziehung“, sagte ich. „Lasst euch vom Paranet helfen. Sollen die Leute mit den kleineren Talenten dabei behilflich sein, die wirklich begabten zu identifizieren.“
Anastasia lächelte. „Keine schlechte Idee, und ich arbeite immer noch daran, sie den anderen schmackhaft zu machen. Nein, Harry, es ist wirklich eine gute Idee, vielleicht könnte es tatsächlich hinhauen. Das Problem liegt beim Rat, ich muss noch ein paar Leute überzeugen. Die meisten sehen darin besonders seit der Sache mit Peabody eher ein Sicherheitsrisiko. Aber trotzdem: Es ist eine gute Idee, und ihre Zeit wird kommen – irgendwann einmal.“
Ich brummte leise vor mich hin, schwieg einen Moment und sah sie an. „Ein altbekannter Streit, was? Wolltest du mich mit ein bisschen Routine beruhigen?“
„Verdruss, Wut und Erregung trüben unseren Verstand. Deshalb haben wir den Sorgenraum. Ich weiß ziemlich gut, wie es aussieht, wenn ein Magier an seine Grenzen stößt.“ Sie schenkte uns beiden nach. „Warum sagst du mir nicht, wie die prähistorische Schlampe dich in diesen Zustand versetzt hat?“
Ich ließ mir mein Glas reichen, trank aber zunächst noch nichts. „Sie hat ein kleines Mädchen entführt.“
„Vampire entführen dauernd Kinder“, sagte Anastasia. „Was ist an dieser Kleinen so besonders?“
Ich schwieg. Stille breitete sich aus, bis ich den Kopf hob und Anastasia ansah.
Wir beide waren eine Weile ein Paar gewesen, sie kannte mich besser als die meisten anderen. So musste sie nur etwa eine halbe Sekunde lang mein Gesicht betrachten, ehe sie scharf Luft holte. „Himmel, Harry! Erzähl das nie jemandem, dem du nicht in jeder Hinsicht vertraust!“
Mein Gesicht verzog sich zu einem bitteren Lächeln, als ich nickte. Natürlich: Wissen war Macht. Jeder, der wusste, dass Maggie meine Tochter war, konnte dieses Wissen gegen mich verwenden, konnte sie als Hebel benutzen, um gegen mich vorzugehen. Anastasia würde das nie tun. Andere im Weißen Rat schon. Nicht so, wie Arianna es getan hatte, nein, hinterlistiger. Sie würden subtiler vorgehen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie mir Geld anboten, um Maggies Lebensunterhalt zu sichern, ihr Zugang zu guten Schulen zu ermöglichen, eine Jugend in Sicherheit und Reichtum, alles, was sich ein Vater für seine Tochter wünschte. Angebote, die sich in Luft auflösen würden, sobald ich bei irgendeiner Sache nicht mitspielte. Immerhin hatte ich es hier mit den Gutenzu tun.
Aber das war noch lange nicht alles. Mir schauderte bei dem Gedanken daran, was Nikodemus mit diesem Wissen anstellen könnte. Oder Mab. Eine furchtbare Vorstellung. Ja, das sehen Sie richtig, hier ist von der Mab die Rede. Glauben Sie mir, ich weiß es: Die Geschichten werden ihr auch nicht annährend gerecht. Außer den beiden hatte ich da draußen noch ein paar andere Schätzchen kennengelernt, von denen keiner Grund hatte, mich zu mögen. Andererseits, dachte ich schaudernd, war Arianna möglicherweise das größere Übel …
Egal: Es half niemandem, wenn das Wissen um Maggie die Runde machte, und ich hatte auch nie vorgehabt, dem Rat gegenüber offen mit unserer Blutsverwandtschaft zu argumentieren. Sympathie würde mir das ohnehin nicht einbringen, dafür aber reichlich zweifelhaftes Interesse. Je weniger Leute wussten, dass ich Maggies Vater war, desto sicherer war meine Tochter.
Ob ich mir der Ironie bewusst war, die dieser Erkenntnis innewohnte?
Darauf können Sie Gift nehmen.
Ich hatte Anastasia keinen Augenblick lang aus den Augen gelassen.
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