Wanderungen durch die Mark Brandenburg
Spinoza,
Lamennais etc. gelesen.
1. Sohn des berühmten Hallenser Anatomen, ein
Schüler Hans Gudes, lebt in Karlsruhe.
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In der Natur und dem Menschenleben scheint mir,
und zwar durch den unerbittlichen Kampf ums Da-
sein, der Pessimismus gerechtfertigt. Die persönliche
Freiheit ist mir in der Politik das Ideal. Daher beken-
ne ich mich nicht zur Sozialdemokratie, die ein Un-
tergraben derselben bedeutet. In Paris früher habe
ich mich mit sozialistischen Schriften von Fourier,
Considérant, Proudhon etc. bekannt gemacht, möch-
te dieselben aber nicht noch einmal lesen. Nach Lu-
ther ist der Mensch ein übermütig und verzagtes
Ding, und ich darf sagen, ich habe beide Seelen-
stimmungen sattsam erlebt, jedoch mehr die letzte-
re, überhaupt viel an moralischem und künstleri-
schem Katzenjammer gelitten. Für das Schaffen an-
derer habe ich mich immer interessiert, daher auch
immer gesucht, mit denen verkehren zu können, die
sich auf diesem oder jenem Gebiete schöpferisch
auszeichneten. Eine Folge davon war, daß ich stets
in einem nicht kleinen Kreise gelebt, am liebsten
jedoch, außer mit Afrikareisenden wie Barth,
Schweinfurth, Nachtigall etc., mit Künstlern verkehrt
habe. Nur der Sinn für Musik ist immer ein sehr ge-
ringer bei mir gewesen; am liebsten höre ich Volks-
lieder und Kirchengesang, dem ich in katholischen
Ländern immer gern beigewohnt habe. Mit fast allen
Künstlern der letzten Dezennien habe ich verkehrt,
darunter von Diebitsch, Henneberg, Gustav Richter,
die Meyerheims, Menzel, Knaus, Karl Becker, Bleib-
treu, Spangenberg, Geselschap, so verschieden und
entgegengesetzt die hier Genannten auch sein moch-
ten. Vielleicht ein Charakterfehler. Ich tröste mich
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aber mit dem Spinozaschen Satze, daß die schlech-
ten Seiten des Menschen auch zugleich seine Tugen-
den seien. Viel Eindruck hat auf mich der indische
Spruch gemacht: ›Tu, was du willst, und du wirst es
bereuen.‹«
Soweit Gentz über sich selber. Ich möchte nach ei-
genen Wahrnehmungen und Erlebnissen ein paar
Worte hinzufügen dürfen.
W. Gentz ist in allem das Gegenteil von einem mo-
dernen Radaumenschen, und in gänzlicher Abwesen-
heit von lärmend anspruchsvoller Inszenierung sei-
ner selbst liegt sein Wesen und sein Wert. Schon im
Gespräche mit ihm zeigt sich dies; er kennt weder
die »großen Worte« noch das nervös Prickelnde der
Konversation. Wer das verlangt, wird nicht weit mit ihm kommen; wer indessen weiß, daß ein lange gelagerter und ruhig gewordener Rauenthaler, der's
aber in sich hat, besser ist als ein moussierender
Mosel, der wird Geschmack und Genuß an Gentz-
scher Reserviertheit und an seiner das Langsam-
Mecklenburgische streifenden Vortragsweise finden.
Ich kann nicht einmal behaupten, überaus häufig mit
ihm verkehrt zu haben, und bin ihm doch das Aner-
kenntnis schuldig, unter den etwa »hundert besten
Geschichten«, die mich als eiserner Bestand durchs
Leben begleitet haben und noch begleiten, ein halbes
Dutzend ihm dankbar anrechnen zu müssen. Und
das ist sehr viel. Gleich das erste der Art, was ich
schon vor beinahe zwanzig Jahren aus seinem Munde
hörte, kann als ein Musterstück seiner Vortragsweise
gelten, einer Weise, die mir darin zu gipfeln scheint,
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daß er den andern oft eine halbe Stunde lang spre-
chen läßt, bis er plötzlich, an einer ihm passend er-
scheinenden Stelle, nun seinerseits das Wort nimmt,
nicht um eine gleichgültige Bemerkung oder kurze
philosophische Betrachtung (darin er übrigens Meis-
ter ist), sondern um ein figurenreiches Bild einzu-schieben. Er ist dann holländischer Maler mit dem
Wort und malt heitere Genreszenen, die mich, in
ihrer farbenfrischen Anschaulichkeit, immer an hu-
moristische Schilderungen aus Achim von Arnim er-
innert haben.
Aber ich wollte von unserem Erzähler erzählen.
Wir schlenderten am Tiergartenrande hin, und ich
klagte – wie das jedesmal geschieht, wenn man von
einer Sommerreise heimkehrt – über die jämmerli-
chen Essereien in den qualvoll langweiligen Hotels
und wie mir immer noch das Leben in England als ein
Ideal vorschwebe, wo man Ruhe habe vor Lachsma-
yonnaisen und Aal in Aspik und sich seinem Genuß
an Hammelrippen und Seezungen immer wieder
freudig hingeben könne – nur die natürlichen Gerich-
te hätten einen Wert.
»Ja«, nahm jetzt Gentz das Wort, »das meine ich
auch und habe das nie lebhafter empfunden als ein-
mal
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