Wanderungen II. Das Oderland.
bereits beschriebene Bildchen, begegnen wir einem zweiten Bilde des Knaben, das ihn uns zeigt, wie der nunmehr Neunjährige, blaß und die Ruhe des Todes auf der Stirn, im offenen, blumenüberstreuten Sarge liegt. Er trägt ein weißes Sterbehemd und in dem glatt anliegenden Haar einen blühenden Rosmarinkranz; um den Hals aber schlingt sich ein schwarzes Band, daran, bis zur Brust hernieder, eine Schaumünze und ein länglich viereckiges Medaillon hängt. Eine Unterschrift gibt Tag und Stunde seines Todes; die Wappen der Sparrs und der Uchtenhagens schieben sich in die oberen Ecken des Bildes ein, und daneben lesen wir, nicht ohne an den Vollklang lateinischer Kirchenlieder erinnert zu werden:
Ah tibi Jesu lectulum
In me para mollissimum,
Meo quiesce pectore
Et intime servabo te;
Worte, denen als deutscher Text der dreizehnte Vers von Luthers Liede »Vom Himmel hoch, da komm ich her« beigefügt ist:
Ach mein herzlich Jesulein
Mach dir ein rein sanft Bettelein,
Zu ruhen in meins Herzens Schrein,
Daß ich nimmer vergesse dein.
Noch wenige Worte. Kaspar von Uchtenhagen ruhte bereits länger denn zweihundert Jahr in der Gruft seiner Väter, und wenige waren es, die nach dem Bilde hinterm Altar blickten. Das blasse Gesicht und der Rosmarinkranz im Haar rührten kein Herz mehr, und kaum jemand existierte, für den die Schaumünze und das Medaillon, die auf dem Herzen des Knaben ruhten, eine Bedeutung gehabt hätten. Man nahm sie als Ornament, als Einfall des Malers. Da, während der zwanziger oder dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts, als ein Umbau nötig geworden, stiegen die Uchtenhagens noch einmal aus ihrer Gruft an das Tageslicht hinauf, und in langer Reihe, das Kirchenschiff hinunter, standen ihre Kupfer- und Eichensärge. Vor dem Altar aber stand ein kleiner Sarg, der Sarg Kaspars von Uchtenhagen. Man nahm den Deckel ab, und siehe da, da lag das Kind ganz wie auf dem Bilde mit Kranz und Krause. Erst bei der Berührung zerfiel alles zu Staub, und Form und Hülle waren hin. Aber das schwarze Seidenband hielt noch, und an dem Seidenbande hingen, wie das Bildnis es zeigt, eine Schaumünze und ein Medaillon. Beide werden aufbewahrt und sind eine Sehenswürdigkeit von Stadt und Kirche. Die Schaumünze hat das übliche Ansehn, das Medaillon aber, etwa anderthalb Zoll lang und einen Zoll breit, ist in zierlichster Weise den Formen eines alten Gebetbuches nachgebildet, mit geripptem Rücken und zwei kleinen Klammern daran. Diese Klammern sind festgenietet und öffnen also weder sich selbst noch das Buch, wohl aber bewegt sich an der Stelle, die dem Schnitt des Buches entsprechen würde, ein kleiner Schieber hin und her und ermöglicht, eine Reliquie oder eine geweihte Hostie in das Büchelchen hineinzulegen. Nichts der Art indessen ward an jenem Tage, wo die Särge noch einmal ans Licht emporstiegen, in dem goldenen Büchelchen gefunden, und nur ein Zettel fiel heraus, auf dem geschrieben stand: »Psalm 63, 10.« Diese Stelle aber lautet: »Sie stehen nach meiner Seele, mich zu überfallen«, und die darin liegende Hindeutung hat der alten Sage, wie sie vorstehend erzählt wurde, zu neuem Leben verholfen.
Ja, sie wächst wieder. Um Mitternacht, so heißt es jetzt, glühen die Fenster der alten Kirche plötzlich in rotem Lichte auf, und die Gestalt Kaspars von Uchtenhagen in weißem Sterbekleide und mit glatt anliegendem Haar tritt vor den Altar und spricht leis, aber vernehmlich das Kirchenschiff hinunter:
»Alle Liebe ist nicht stark genung,
Ich muß doch sterben und bin so jung.«
Und wenn der Ruf verhallt ist, erlischt der rote Schein in den Fenstern, und alles ist wieder wie zuvor.
So erzählen Sage und Geschichte vom alten Geschlecht der Uchtenhagen.
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Das Schloß Neuenhagen jenseits der Oder ist verhältnismäßig wohl erhalten bis auf den heutigen Tag. Es wird noch bewohnt und bietet, wie wir nicht zweifeln, einen besseren Aufenthalt als mancher moderne Bau. Die alten Uchtenhagen-Räume dienen den verschiedensten ökonomischen Zwecken: das Burgverlies ist ein Wirtschaftskeller, die große Halle eine Waschküche geworden. Ein anderes Zimmer (man verzeihe diesen Exkurs), drin ein schwedischer Oberst in der nach-Uchtenhagenschen Zeit den Amtmann von Neuenhagen über Strohfeuer rösten ließ, um die verborgenen Schätze zu erkunden, diente, dieser Reminiszenzen unerachtet, noch vor kurzem als Schlafzimmer. Ich hätte mir ein anderes gewählt. Was aber besser als alles andere erhalten ist und mehr als alles
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