Wandlung
Jane, Ghost und Punch nur noch knappe drei Stunden blieben, um auf die Rampart zurückzukehren, ehe die Raffinerie das offene Meer erreichte und sie zurückbleiben würden.
Sian holte ihr Funkgerät heraus. »Rampart an Jane, kannst du mich hören, over? Jane, empfängst du mich?«
Atmosphärische Störungen.
»Jane? Ghost? Könnt ihr mich hören?«
Jane stand vor der offenen Eingangstür des Bunkers, als eine schwache Stimme zu ihr durchdrang. »Jane, empfängst du mich? Empfängst du mich, over?«
Sie nahm ihr Funkgerät heraus. »Sian? Kannst du mich hören, Sian?«
Nichts, nur Rückkopplungen und ein schwach flackerndes LED. Die Batterien gingen zur Neige.
Das Lagerfeuer brannte. Sie ging in die Hocke und besah es sich genauer: Teile verbrannten Mobiliars. Das Feuer war erst vor Kurzem angezündet worden, noch wenige Augenblicke zuvor war jemand hier gewesen.
Sie untersuchte eine weggeworfene Stablampe. Sie gehörte Ghost, vor einigen Wochen hatte sie gesehen, wie er sie mit Gewebeband umwickelt hatte, um einen Riss in der Hülle zu reparieren.
Demnach hatte Ghost die Bohrinsel verlassen, er
musste auf dem kürzesten Weg zum Bunker gelaufen sein und ihn noch vor ihr erreicht haben.
»Ghost?«
Keine Antwort.
Jane richtete ihren Flammenwerfer in den dunklen Tunnel. Im tosenden Schein der Flammen konnte sie bis tief unter die Erde führende Betonwände erkennen.
Jane sah auf ihre Uhr.
41:45
Sie richtete ihre Stablampe auf den Tunnelboden: verschliffene Stiefelabdrücke, die in die Schatten hineinführten.
Sie schnallte sich den Flammenwerfer um, packte ihre Stablampe und folgte den Fußspuren hinab in die Dunkelheit.
38 – Die Grube
Auf dem feuchten Tunnelboden war deutlich das grobe Profil von Schneestiefeln zu erkennen. Jane ging in die Hocke; es waren mehrere Fährten, große Abdrücke, alte wie neue, außerdem ein Satz kleinerer Füße, wahrscheinlich von Nikki.
Den Flammenwerfer einsatzbereit, folgte Jane den Spuren und jagte einen kurzen Feuerstoß in jede Einmündung.
Der Schacht führte sanft hinab in das Muttergestein. Die Luft wurde kälter, an den Wänden glitzerten Katzengold und Kieselerde.
Stumme Gänge und abgestützte Sohlen, alle paar Minuten blieb sie stehen und lauschte, ob sie womöglich verfolgt wurde, doch bis auf ein fernes Tröpfeln, das Geräusch ihres eigenen Atems und das leise Zischen der Zündflamme ihres Flammenwerfers war nichts zu hören.
Sie lehnte sich gegen die Tunnelwand; eine plötzliche Woge der Angst hatte ihr die Beine weich werden lassen. Ihr Instinkt riet ihr, kehrtzumachen und zur Bohrinsel zurückzulaufen. Die Rampart trieb auf und davon, und sie war im Begriff, zurückzubleiben. Noch war es nicht zu spät, sie konnte es immer noch bis nach Hause schaffen.
Für einen Moment schloss sie die Augen. Sofort stellte sich eine Erinnerung ein, lebendig und unmittelbar wie in einem Fiebertraum.
»Wie alle Persönlichkeitsmerkmale ist Mut im Wesentlichen eine Angewohnheit«, erklärte Janes ehemaliger Englischlehrer, der junge Mr. Stratford, der sich gerne als inspirierendes Beispiel sah. Jane war an der Reihe, vor der Schulversammlung ein Gedicht vorzutragen, Byron. Sie würde vor die versammelte Schülerschaft und das gesamte Kollegium treten und während des Gottesdienstes an einem Pult stehen müssen und hatte schreckliche Angst. »Wenn man sich jeden Tag mutig verhält, sich eine selbstsichere Körperhaltung zulegt, einen selbstsicheren Ton anschlägt, dann wird einem das mit der Zeit zur zweiten Natur«, erklärte er. »Ja gewiss, das ist verlogen und nur vorgetäuscht. Aber wenn man ein solches Persönlichkeitsmerkmal nur lange genug vortäuscht, wird es zu einem unveränderlichen Merkmal, etwa wie ein Fingerabdruck. Es hat also gar keinen Sinn, sich einzureden, man habe keine Angst – unsere Gefühle und Gedanken lassen sich nicht kontrollieren. Wohl aber unsere Taten. Letzten Endes sind wir die Summe dessen, was wir tun.«
Während der letzten Monate hatte Jane alles darangesetzt, die Besatzung der Rampart zu retten, und siehe da, sie hatte sich verändert, sie war schlank geworden und trug eine Superwaffe auf dem Rücken. Sie erkannte sich kaum wieder.
Jane ging weiter.
Früher hatte sie gerne Bücher über chinesische Philosophie gelesen, Bushido, den Ehrenkodex der Samurai. Ihre jungen, beleibten Jahre waren von Angst beherrscht gewesen, sie hatte Angst vor der Schule, Angst, an einem belebten Tag durch die Stadt zu
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