Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)
Register noch Kataster, noch Hausnummern gab. Wir lebten und wohnten einfach irgendwie und irgendwo, wie wir wollten. In dieser großen Unordnung und diesem Zigeunertum war etwas seltsam Vertrautes. Vielleicht hatten die Menschen vor sehr langer Zeit so gelebt, als es noch keine Heimat, noch keine Nation gab, sondern bloß einen Stamm, eine streunend umherziehende Horde, mit Karren und Kind und Kegel, auf einer weglosen, ziellosen Wanderung. Kann ja sein, daß man sich unter dem Schutt, den die Erinnerung aufhäuft, noch an dieses nomadische Leben erinnert.
Aber nicht deswegen rannte ich zu ihm und umarmte ihn vor den Augen Tausender von Menschen.
In dem Augenblick – du lachst mich nicht aus, gelt? –, in dem Augenblick brach etwas in mir. Du kannst mir glauben, ich hatte mich zusammengenommen, hatte alles ertragen, die Belagerung und was vorher gewesen war, die Schrecken, die Bombardierungen, all die fürchterlichen Dinge. Gut, ich war damals nicht ganz allein. Die Monate, als der Krieg so wahnwitzig und trostlos ernst wurde, erlebte ich in Gesellschaft des Künstlerartigen. Versteh mich nicht falsch, ich lebte nicht mit ihm. Kann sein, daß er impotent war, ich weiß es nicht. Davon hat er nie geredet, aber wenn ein Mann und eine Frau in derselben Wohnung schlafen, liegt irgendwie ein Hauch von Verliebtheit in der Luft. In der Wohnung des glatzköpfigen Künstlers war kein Verliebtheitshauch. Hingegen hätte es mich nicht überrascht, wenn er eines Nachts über mich hergefallen wäre und mich mit beiden Händen gewürgt hätte. Ich schlief bei ihm, weil es fast jede Nacht Fliegeralarm gab und ich zwischendurch nicht nach Hause gekommen wäre. Und jetzt, viel später, da dieser Mensch nicht mehr lebt, kommt es mir vor, als hätte ich bei jemandem geschlafen, der beschlossen hatte, sich die Welt abzugewöhnen. Sich alles abzugewöhnen, was für die Menschen irgendwie wichtig ist. Wie einer, der eine Entziehungskur macht, um sich eine berauschende, aber auch ekelhafte Leidenschaft abzugewöhnen, den Alkohol oder die Drogen oder die Eitelkeit.
Es ist schon so, daß ich mich damals bei ihm einschlich, in seine Wohnung und in sein Leben. Es gibt Einschleichdiebe, und es gibt auch Einschleichfrauen, die in einem unbeachteten Moment in das Leben eines Mannes treten und dort hastig zusammenraffen, was sie können, Erinnerungen, Eindrücke. Später haben sie keine Verwendung mehr dafür, und sie verkaufen, was sie sich unter den Nagel gerissen haben. Aber ich habe nichts verkauft, was ich von ihm bekommen hatte. Und jetzt spreche ich nur davon, weil ich möchte, daß du alles von mir weißt, bevor du mich verläßt. Oder ich dich. Also, er ließ es einfach zu, daß ich in seiner Nähe war, wann immer ich wollte, morgens oder nachts oder nachmittags. Bloß stören durfte ich ihn nicht. Es war verboten, etwas zu ihm zu sagen, wenn er las. Oder wenn er einfach vor einem Buch saß und schwieg. Sonst aber durfte ich in seiner Wohnung machen, was ich wollte. Denn es war eine Zeit, als von einem Augenblick zum anderen Bomben fallen konnten und man in der großen Stadt einfach so daherlebte, ziellos, zeitlos.
Schrecklich, sagst du? Wart mal, ich muß mir das überlegen. Ich weiß gar nicht. Es war eher eine Zeit, in der irgendwie etwas klargeworden war. Etwas, das man sonst nicht richtig durchdenkt, sondern lieber wegscheucht, war mit Händen zu greifen. Was? Na ja, daß das Ganze, weißt du, keinen Zweck hat, keinen Sinn. Und dann war da noch etwas anderes … Mit der Angst wurde man bald fertig, die schwitzte man heraus wie ein Fieber. Alles hatte sich verändert. Die Familie war keine richtige Familie mehr, der Beruf, die Arbeit zählten nicht mehr, die Verliebten liebten sich hastig, so wie ein Kind rasch etwas Süßes in sich hineinstopft, wenn die Erwachsenen gerade nicht gucken, und dann davonrennt, hinaus, auf die Straße, in die Unordnung, zum Spielen. Alles löste sich auf, die Wohnungen genauso wie die menschlichen Beziehungen. Manchmal hatte man noch das Gefühl, das Zuhause oder die Arbeit oder die Menschen gingen einen etwas an, man habe eine wirkliche, innere Beziehung zu alldem. Und dann kam ein Bombenangriff, und es stellte sich heraus, daß man zu den Dingen, die am Vortag noch wichtig waren, keine Beziehung mehr hatte.
Aber die Angriffe kamen nicht nur von den Bomben. Während die Sirenen heulten, während die deutschen Kommandos in ihren Autos umhersausten, mit geraubten Menschen und geplünderter Ware,
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