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Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition)

Titel: Wandlungen einer Ehe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Christen gerieten in Schwung, und es begann die Völkerwanderung. Wien und Preßburg waren da schon gefallen, und die Leute ergatterten sich bei den Russen eine Fahrgelegenheit nach Wien und brachten Schweinefett, Zigaretten und Autos heim.
    Unsere Ohren waren noch halb taub von den Explosionen der überall verstreuten Minen und Bomben, aber in Pest waren schon die Eszpreszós geöffnet, wo es starken Bohnenkaffee zu trinken gab und wo nachmittags um fünf die Mädchen des József-Viertels mit den russischen Matrosen tanzten. Noch waren nicht alle Verwandten begraben, und vielerorts guckten die Füße der Toten aus den hastig ausgehobenen Straßengräbern hervor. Aber schon sah man Frauen in modischen Kleidern und in voller Bemalung, wie sie im Boot über die Donau hasteten, zum Rendezvous in der Junggesellenwohnung einer Hausruine. Man sah bürgerlich gekleidete Menschen, die gemächlich zum Kaffeehaus auf dem Boulevard spazierten, wo man zwei Wochen nach der Belagerung zum Mittagessen Kalbspörkölt bekam. Es gab schon wieder Klatsch und Tratsch und Maniküre.
    Ich kann dir nicht beschreiben, was es für ein Gefühl war, zwei Wochen nach der Belagerung, im herben Gestank der rauchenden Häuser, in der von uniformierten russischen Räubern und gierigen Krimmatrosen wimmelnden Stadt in einer Drogerie um französisches Parfum zu feilschen.
    Seither habe ich oft gedacht, und ich denke es noch heute, daß niemand verstehen kann, was mit uns geschehen ist. Wir sind alle vom jenseitigen Ufer zurückgekommen, aus der Totenwelt. Alles, was zur Welt des Gestern gehört hatte, war eingestürzt und kaputtgegangen. Jedenfalls glaubten wir, daß alles zu Ende war und etwas Neues begann.
    Ein paar Wochen lang glaubten wir das.
    Diese Wochen, die Zeit unmittelbar nach der Belagerung, waren schon ein Erlebnis. Dann ging auch diese Zeit vorbei. Aber stell dir vor, in jenen Wochen gab es keine Gesetze, gar nichts. Gräfinnen hockten am Rand des Gehsteigs und verkauften Krapfen. Ich sah eine halb wahnsinnige Jüdin, eine Bekannte, die den ganzen Tag mit irrem Blick ihre kleine Tochter suchte und jeden ausfragte, bis sie endlich erfuhr, daß das Kind von den Pfeilkreuzlern umgebracht und in die Donau geworfen worden war. Die Frau wollte es einfach nicht glauben. Man hatte das Gefühl, alle müßten wieder am Leben sein, alles werde jetzt irgendwie anders. Von diesem »anders« redeten die Menschen mit blitzenden Augen, so wie die Verliebten oder die Drogensüchtigen, die von der großen Befriedigung faseln. Und tatsächlich ist bald alles »anders« geworden, nämlich so, wie es vorher war. Aber das wußten wir da noch nicht.
    Was stellte ich mir vor? Hoffte ich, daß wir von nun an besser, menschlicher sein würden? Nein, das nicht.
    Vielmehr hofften wir in jenen Tagen, auch ich und alle, mit denen ich sprach, daß die Angst und das Leiden etwas aus uns herausgebrannt hätten wie Salpeter. Vielleicht hoffte ich auch, daß wir unsere Schwächen und schlechten Gewohnheiten vergessen hätten. Oder nein, wart mal. Ich will das erzählen, aber ehrlich.
    Vielleicht hofften wir noch etwas anderes. Vielleicht hofften wir, die Zeit einer großen Unordnung sei gekommen, und alles würde so bleiben, bis ans Ende der Tage. Und es werde keine Polizisten und Schergen geben und keine Nobelbehausungen und kein Küßdiehand, kein Mein und Dein und Ewiglich-dir-verbunden. Sondern? Der große Rummel, das zum Himmel schreiende Nichts, in dem die Menschheit einfach umherspaziert, Krapfen frißt, sich vor den Aufräumarbeiten drückt und allem einen Tritt gibt, was sich bis dahin Rücksicht und Verpflichtung nannte. Doch das wagte niemand auszusprechen. Weißt du, da war etwas Höllisches, aber auch etwas Paradiesisches in jenen Tagen. Ein Leben wie vor dem Sündenfall.
    Und dann sind wir eines Tages erwacht, gähnend, aber auch mit einem kalten Schauder, denn wir merkten, daß sich nichts geändert hatte. Wir merkten, daß es kein »anders« gibt. Man wird in die Hölle geworfen und dort gekocht, und wenn man eines Tages dank einer himmlischen Macht wieder heraufgeholt wird, macht man nach kurzem Blinzeln dort weiter, wo man aufgehört hat.
    Ich hatte viel zu tun, denn die Tage bestanden aus einem emsigen Nichtstun, man mußte sich alles Lebensnotwendige mit eigenen Händen beschaffen. Man konnte nicht nach dem Stubenmädchen klingeln, bitte sehr, bringen Sie mir das und das, so wie die Herrschaft nach mir geklingelt hatte, und später auch ich, frech und

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