Wanja und die wilden Hunde
Fluss?«
Ich: »Hä?«
Pascha steht auf, geht zu ihren Fenstern, zeigt in Richtung Fluss und dann auf mich.
Ich (begreifend): »Ah! Ich waren Fluss. Sehr schön.«
Pascha: »Hä?«
Ich (lauter und mit Handtrichter vor dem Mund): »Waren Fluss!!! Seeehr!!! Schön!!!«
Pascha versteht.
Pascha ist die Einzige im Dorf, die ihre Aussagen pantomimisch unterstützt, wenn ich sie nicht begreife. Bei ihr lerne ich »Lipowkaisch«. Die anderen Babuschkas stehen meinem Sprachproblem entweder hilflos, ratlos oder schreiend gegenüber. Einige sind der Meinung, dass sie der deutschen Sprache mächtig sind, weil sie vor sechzig, siebzig Jahren in der Schule etwas Deutsch gelernt haben.
»Eins, zwei, drei«, sagt Baba Tonja stets, wenn ich an ihrem Haus vorbeigehe. »Ja, ich kann Deutsche«, fügt sie stolz hinzu. Immer wenn ich Bauer Anton treffe, ruft er fröhlich »Gitler« und nickt mir aufmunternd zu. (Russen können kein »H« sprechen.) Er benutzt den Namen Hitlers nicht, um mich zu beschimpfen, wie ich anfangs meinte, sondern offenbar, weil es der einzige deutsche »Begriff« ist, den er noch kennt. Ein allgemein gebrauchtes deutsches Wort ist »kaputt«.
Sicher aufgrund dieser »Fremdsprachenkenntnisse« fragt mich Tonja einmal, warum ich denn so schlecht Russisch spreche.
»Na, ich muss es doch erst noch lernen«, antworte ich.
Tonja blickt mich ehrlich erstaunt an und fragt: »Aber wieso, kann denn nicht jeder Russisch?«
Ich muss gestehen, dass das tägliche Beisammensein mit Pascha von meiner Seite her nicht ganz freiwillig erfolgt ist. Es ist mir jedoch unmöglich, Pascha zu widersstehen.
»Nimm Platz, wir essen zusammen«, sagt sie zum Beispiel.
»Ich habe keinen Hunger und muss auch zu Hause noch etwas tun«, unternehme ich einen Abwehrversuch.
»Wenn du nichts isst, kannst du zu Hause auch nicht weiterarbeiten«, lautet ihre Antwort. (Das Essen ist mittlerweile bereits auf dem Teller gelandet.)
»Aber ich kann doch auch zu Hause essen«, wage ich einen erneuten Versuch.
»Du hast mir geholfen, also bekommst du von mir auch das Essen. Iss!«, sagt sie dann und schiebt mir eine Gabel hin.
Ich esse.
Nach mehreren Wochen Zwangsgemeinschaft beginne ich, die Treffen zu mögen, obwohl ich sonst eine Allergie gegen Zwänge und tägliche Wiederholungen habe. Ich liebe es, wenn Paschas alte Hand, die dennoch ganz kindlich aussieht, beim Erzählen auf meinem Knie liegt, vertrauensvoll wie ein kleines Vögelchen, das ein Nest gefunden hat.
Sie erzählt von ihrem Leben, fragt mich nach meinem Leben. Versucht, die ungewohnten Antworten zu verarbeiten. Zum Beispiel die Tatsache, dass ich nicht an Gott glaube, weil ich nicht so erzogen wurde, oder dass ich weder verheiratet bin noch Kinder habe. Und ich bin tief beeindruckt, wie tolerant sie trotz ihrer gegensätzlichen Ansichten diese Dinge hinnimmt und mir weiter mit großer Zuneigung begegnet.
Auch in anderen Lebensbereichen nehme ich Veränderungen in mir wahr.
Während ich an einzelnen Zeilen meiner Liedtexte tagelang herumfeilen kann, zeigt sich im realen Leben bei mir eher eine Vorliebe fürs Vorläufige und Eilige. Wenn ich zum Beispiel etwas repariere, muss es schnell gehen. Schon das Sich-Beschäftigen-Müssen mit einem Problem im Hier und Jetzt bringt mich in Bedrängnis. Um es möglichst schnell wieder vom Hals zu haben, pfusche ich es eilig irgendwie hin. Eine Gardinenleiste, die ich nicht tief genug eingedübelt hatte, weil ich nicht noch einmal nachbohren wollte, fiel am nächsten Tag wieder ab. Seitdem habe ich eben keine Verdunklungsgardine mehr. Einen fehlenden Knopf habe ich mit so vielen Stichen angenäht, wie der eingefädelte Zwirn gerade hergab – und nicht mit der Anzahl Stiche, die nötig gewesen wären. Ich verlor ihn erneut.
Die Veränderung beginnt in meinem ersten Frühjahr in Lipowka.
Ich beschließe, Blumen vor meinem Haus anzupflanzen, um mich – auf der Bank sitzend – an ihnen zu erfreuen. Damit die Kühe die kommenden Sprösslinge nicht fressen, baue ich einen kleinen Zaun um das Beet. Ich entscheide mich für die schnellste Bauvariante, den Typ Koppelzaun. Dieser besteht aus Pfosten, die ich in jede Beetecke eingrabe, und dünnen Baumstämmen, die oben und unten quer zwischen den einzelnen Pfosten befestigt werden. Die Bauern kerben dazu mit einer Axt die dünnen Stämme so ein, dass sie genau um die Rundung des Pfostens passen. Dann werden die Stämme angenagelt.
Um mir die Mühe zu ersparen, insgesamt 16 Kerben zu
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