Wanja und die wilden Hunde
wird nach einem Jahr geteilt. So reicht ein einziges Schwein für etwa acht Haushalte.
Im Winter, kurz vor der Schlachtung, lebt das Schwein in einem kleinen Hohlraum hinter dem Küchenofen, weil es im Stall erfrieren würde. Es rächt sich im Voraus für die Schlachtung mit einem lautstarken nächtlichen Grunzen und Quieken. Alle Bauern mit einem Schwein klagen über massive Schlafprobleme.
Zu Besuch bei meinen Eltern in Deutschland gebe ich ein Vermögen für viele Packungen Oropax aus und verteile sie – mitsamt einer genauen Gebrauchsanweisung – im Dorf.
Ein paar Tage später zeigt man mir, sehr zufrieden, wie das Oropax verwendet wurde. Es dient jetzt in den Häusern als Fensterkitt und dichtet den Rahmen der im Winter zusätzlich eingefügten Fensterscheibe ab.
Ich selbst kenne Schweine zu diesem Zeitpunkt nur aus meiner Kindheit, vom Bauernhof der Verwandten. Sie waren meine besten Freunde. Ich saß viele Sommer im Schweinestall und erzählte den geduldigen Zuhörern von meinen, mir sehr groß erscheinenden Sorgen. Es war eine schöne Zeit. Seitdem liebe ich Schweine.
Nicht weniger als Hunde.
Ich lerne Baba Paschas Schwein kennen. Es steht in einem winzigen Verschlag in der Scheune.
»Aber es hat ja nicht einmal ein Fenster«, rufe ich schockiert.
»Wot okno!« (»Da ist das Fenster!«), erwidert Pascha und zeigt auf eine Ritze im Holz.
Ich bin fassungslos.
»Das Schwein darf sich nicht bewegen, weil es sehr schnell dick werden soll«, erklärt Pascha und deutet auf den winzigen Verschlag.
Das Schwein geht mir nicht aus dem Kopf.
In der Nacht schleiche ich mich zu Paschas Scheune. Es ist 3 Uhr. Die einzige Zeit, in der jeder Lipowkaer zu schlafen scheint. Alle Fenster sind dunkel.
Ich will dem Schwein das Tollste bieten, was es je erlebt hat: Feld. Wiese. Auslauf. Die Welt.
Ich öffne den Verschlag, und das Schwein wuchtet an mir vorbei. Durch die Scheunentür. Auf das vom Vollmond beschienene Feld. Es grunzt, schnüffelt, gräbt und schaufelt mit der Schnauze in der Erde. Ich bin glücklich. Ich könnte heulen vor Glück. Das arme Schwein lernt endlich die Welt kennen.
Es verlässt das Feld.
Ich beginne nachzudenken.
Ich versuche das Schwein zurückzutreiben. Selten habe ich mich so unsichtbar gefühlt wie bei diesem Schwein.
Ich klopfe, rufe, schreie, schiebe.
Das Schwein scheint durch mich hindurchzulaufen.
Nach zwanzig Minuten bin ich schweißgebadet. Ich habe Pascha und ihren Nachbarn das Fleisch für das ganze nächste Jahr genommen. Ich laufe so schnell ich kann zu Vera, die tief und fest schläft. Es ist mittlerweile vier Uhr morgens.
»Vera …« Ich klopfe an die Fensterscheibe ihres Ein-Zimmer-Häuschens. »Veeera …«, flüstere ich angespannt.
Vera öffnet verschlafen das Fenster. »Äääh?«
»Vera, bitte hilf mir. Ich muss das Schwein wieder einfangen!«
Vera öffnet kurz die Augen. »Ein Schwein?«
»Das Schwein von Pascha, du weißt schon, das ohne Fenster«, raune ich.
Vera ist wach. »Was für ein Fenster?«
»Paschas Schwein! Ich habe es freigelassen. Es sollte einmal die Welt kennenlernen«, flüstere ich panisch.
Ich erkenne an Veras ungläubigem Blick, dass sie mich verstanden hat.
Ein paar Minuten später suchen wir zusammen das Schwein. Wir finden es im Garten von Paschas Nachbarin Tasja. Es erntet gerade Gemüse. Das ist unser Glück – wäre es auf dem Feld geblieben, hätten wir keine Chance gegen seinen nun erwachten Freiheitsdrang gehabt.
Veras Idee, einen Besen und eine Mistforke mitzunehmen, erweist sich als unglaublich sinnvoll. Wir versuchen, das Schwein damit in Richtung Scheune zu drängen. Falls Sie noch nie ein Schwein kennengelernt haben: Es gibt kaum ein autarkeres Wesen!
Es wehrt sich, quiekt schrill oder ignoriert uns stoisch und ist im Übrigen flink und wendig.
Voller Angst haben wir stets die umliegenden Fenster im Blick, die erstaunlicherweise dunkel bleiben. Wir sind einem Schwächeanfall nahe, als wir das Schwein endlich in den Verschlag zurückgetrieben haben.
Mir geht es nicht gut. Jemandem die Welt zu zeigen ist das eine, das andere ist, sie ihm wieder zu nehmen.
Ich schlafe bis 11 Uhr. Die elektrische Pumpe am Wegrand, deren Trinkwasser vom Nachbardorf zu uns geleitet wird, ist bereits geschlossen. Ich borge mir bei Nachbar Wasja einen Eimer Wasser. Er blickt mich interessiert an.
»Ihr habt Paschas Schwein eingefangen. Das ist sehr gut.«
»Woher weißt du das denn?«, frage ich ängstlich.
»Das ganze Dorf spricht
Weitere Kostenlose Bücher