Wanja und die wilden Hunde
bellende Staubwolke auf uns zukommt. Alle sind hübsch beisammen: Wanja, Laska, Alma, Husar, Anton, Bambino, Felix, Milyi und Baba. Später werde ich entdecken, dass unter meiner Hoftür ein Loch für diese Flucht gegraben wurde. Jetzt aber sind wir ratlos, was wir mit den Hunden tun sollen. Der Weg zu Baba Luba ist weit, und zurück zu meinem Haus wären es fast vierzig Minuten Fußweg.
Unser Glück ist, dass Baba Luba keinen eigenen Hund mehr hat und die nächsten Nachbarn weit entfernt wohnen. So wird es keinen Ärger mit ansässigen Hunden geben.
Ich gehe mit Vera ins Haus und sehe durch das Fenster, wie die Hunde draußen abwartend stehen bleiben. Eine bunte Festgemeinschaft ist versammelt. Einige Bauern und Bäuerinnen aus dem Dorf, die Töchter von Baba Luba und auch der Sohn aus Moskau hat sich über die Flüsse gewagt.
» Veruscha, Majetschka, dawai ! Ihr habt schon drei Prosits verpasst«, ruft Körbemacher Petja.
Sofort müssen wir das Versäumte nachholen und bekommen ein Glas randvoll mit Samogon eingeschenkt. Der Vorteil von Wodka gegenüber Selbstgebranntem ist, dass der auf dem Etikett angegebene Prozentgehalt zwar hoch, aber verlässlich ist und dass er nicht schmeckt. Der Selbstgebrannte von Baba Luba jedoch schmeckt leider sehr gut, und sein stets schwankender Prozentgehalt ist in der Lage, am nächsten Morgen alles – von einem klaren Kopf bis zu einem furchtbaren Kater – zu erzeugen. Vera und ich nutzen jede sich bietende Gelegenheit, um die Hälfte eines jeden Glases in das im Rucksack versteckte Einweckglas zu leeren.
Baba Luba stellt ein neues Lied vor. In zehn Strophen geht es darum, dass sie einen Brief an einen Geliebten geschrieben hat und nie eine Antwort darauf erhielt. Ihr Warten beschreibt sie im Refrain mit dem Bild einer Rose, die langsam zu welken beginnt. Der Anblick der singenden 85-jährigen, schönen Frau ist sehr berührend. Alle anwesenden Babuschkas hören atemlos zu.
Das Lied ist zu Ende. Taschentücher werden gezückt.
Schnäuzend fragt Baba Dina: »Aber warum hat er denn nicht geantwortet?« Sie weint.
Was für ein Publikum, denke ich, selbst Liedermacherin. Was für ein Publikum.
Baba Luba singt mit ihren Töchtern: Mascha und Brotbäckerin Walja
In diesem Moment beginnt das Haus zu beben. Anfangs gleicht das Geräusch einem Zentner Kohlen, die in einen Keller geschüttet werden. Dann steigert es sich zu rappelndem Donner unter dem Fußboden, der die Gläser auf dem Tisch erzittern lässt. Alle springen schreiend auf und rennen hinaus. »Die Erde bebt! Die Erde bebt!«, schreit Mascha, die mittlere Tochter Lubas.
Als wir draußen sind, kommen auch die Hunde wieder unter dem Haus hervor, unter das sie gerade – lautstark – gekrochen sind. Es braucht seine Zeit, um allen Anwesenden den Grund für das »Erdbeben« klarzumachen. Dann jedoch blickt die Festgemeinschaft mit sichtbarer Erleichterung auf die Ursache der Naturkatastrophe. Auf den Schreck muss unbedingt ein weiterer Samogon getrunken werden.
»Wenn wir jetzt hineingehen, werden die Hunde wieder unter das Haus kriechen«, warnt Vera.
Drinnen richten fortan alle ihr Augenmerk nicht nur auf das nächste erhobene Glas, sondern auch auf den Fußboden. Gerade ist der Toast auf den Schreck gesprochen und der Selbstgebrannte getrunken, da rappelt es in derselben Weise wie zuvor. Alle Augen folgen den Erschütterungen des Bodens wie dem zuckenden Ende einer brennenden Zündschnur.
Den letzten Rappler kommentiert Wasja mit einem neuen Prosit: »Auf das Leben«, sagt er, und alle stimmen ihm erleichtert zu.
Milyis Schatz
Ich bin auf Beerensuche im Wald. Die feuchtschwüle Luft ist voll von Mücken. Berührt mein Kopf einen Zweig, klatschen sie gegen mein Gesicht wie eine Handvoll Sand. Man wird unempfindlich dagegen im Laufe der Zeit. Es sind zu viele. Und die Mückenplage dauert zu lange. Die Hunde streunen in großen Bögen um mich herum, der Korb füllt sich langsam mit Beeren. Immer vollere Sträucher locken mich immer tiefer in den Wald.
Plötzlich kommt Milyi aufgeregt zu mir gerannt. Ich lausche, ob ihm etwas folgt, aber ich kann nichts hören. Ich streichle ihn und rede mit ruhiger Stimme, doch er beruhigt sich nicht und rennt so aufgebracht durch das Unterholz davon, wie er kam.
Kurze Zeit später kehrt er noch aufgeregter zurück. Er lehnt seinen großen Kopf gegen mein Bein und winselt in kurzen, leisen Tönen. Dann läuft er erneut los. Ich beschließe, ihm zu folgen. Milyi verschwindet
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