Wanja und die wilden Hunde
im zweiten Fall Einsturzgefahr besteht. Ich darf zur Neueröffnung einer Moskauer Kirche singen und bin, als das Konzert beginnt, auf einer Art »Baustellenklo« eingeschlossen, dessen Tür nicht mehr aufgeht. Ich lerne viele neue Orte kennen und an jedem neuen Ort neue Menschen und deren Freunde und die Freunde dieser Freunde. Meine Magenschleimhäute reagieren gereizt auf die Mengen an – mir durch ungeschriebene Freundschaftsgesetze aufgezwungenen – Wodka und auf die fetten und kohlehydratreichen Speisen. Ich fahre Tausende von Kilometer, und immer wenn ich frage, wie weit etwas entfernt ist, höre ich: » Ne daljeko !« (»Nicht weit!«).
Gewöhnt an einen ungestörten deutschen Konzertablauf, habe ich mir bei meinen ersten Auftritten eine schöne ineinander übergehende Lied- und Szenenreihenfolge für mein Programm überlegt. (Zwischen den Liedern arbeitete ich von Anfang an auch bereits in Deutschland immer mit szenischen Darstellungen.)
In Deutschland kommt am Ende eines Liedes Applaus, im damaligen Russland (ich kann nicht sagen, wie es heute ist) Applaus, Bravo- und (H)urra-Rufe sowie Blumen. Mitten in einem Konzert also stehen Besucher auf und kommen vor zur Bühne, um sich für ein Lied zu bedanken, das ihnen besonders gut gefallen hat.
Bei meinem ersten Konzert blicke ich irritiert auf zwei junge Leute, die gleich nach dem ersten Titel zum Bühnenrand kommen und mich anstrahlen. Ich blicke ratlos zu Vera, die in der ersten Reihe sitzt und mir mit einer leicht winkenden Handbewegung dezent bedeutet, dass ich zum Bühnenrand gehen müsse.
Umständlich lege ich meine Gitarre neben mir ab, gehe mit hochrotem Kopf nach vorn, die Hände der jungen Leute schütteln meine Hände, und es wird mir erklärt, was für sie das Besondere an dem gerade vorgetragenen Lied gewesen ist. Die ganze Zeit über rechne ich aufgrund der Unterbrechung mit Unruhe im Publikum. Alle jedoch schweigen.
Selbst Kinder sagen während eines Liederkonzertes oder einer Dichterlesung nicht einen Piep. Es macht auf mich einen gespenstischen Eindruck, mit welcher Hingabe und Konzentration die Kleinen entspannt neben ihren Eltern sitzen und zuhören.
Später kommen zu den Menschen mit den Blumen die Menschen mit den Kassettenrekordern dazu. Sie halten große und kleine Geräte vor der Bühne nach oben und haben den Aufnahmeknopf des Raummikrofons gedrückt. Stolz werden mir im Anschluss an mein Konzert die akustischen Highlights vorgespielt. In all dem Rauschen ist tatsächlich auch eine Stimme zu vernehmen. Leider hört sie sich nicht an wie meine.
Auf der Bühne
In den Kiosken, die zu diesem Zeitpunkt in den Städten die Hauptquelle jedes Einkaufs darstellen, weil es in den Läden nur sehr begrenzt etwas zu erwerben gibt, liegen regelmäßig »Raubkopien« von Konzerten in Kassettenform. Sie besitzen weder ein Cover noch eine Hülle. Sie sind in weißes Papier eingewickelt, das mit der jeweiligen Handschrift des »Räubers« beschriftet ist.
»Ma й ke Новак « (»Maike Nowak«) lese ich eines Tages an einem Kiosk auf so einer Kassette. Dieses »Produkt« erfüllt mich mit so viel Stolz, dass ich die Kassette kaufe. Sie ist mir noch heute kostbarer als meine später in einem Moskauer Studio aufgenommene und in Köln produzierte, völlig rauschfreie CD .
Von der Presse werde ich als »Stern in der Nacht« bezeichnet und absolviere Rundfunkauftritte, in denen mein Russisch, ohne meine sonst so hilfreiche Gestik, einsam durch den Äther wankt und die Redakteure ihre an mich gestellten Fragen oft selbst beantworten.
Ich habe immer mehr Sehnsucht nach den Hunden und den einfachen Dingen des Lipowkaer Lebens. Nach meinen Kleidern in Dreckstufe I, II und III. Nach den morgendlichen Gängen zu den Babuschkas, dem Fluss – und nach mir. Nach vier Monaten Reisen ist meine Seele verwildert. Ich brauche dringend wieder eine Heimat und fahre mit klopfendem Herzen nach Hause. Vera bleibt für einige Zeit in Moskau in ihrer Wohnung. Sie gibt nun selbst Konzerte.
Ich fühle mich fremd, als ich in Lipowka den sandigen Weg entlanggehe. Ich gehöre nicht hierher mit all den Bühnenauftritten, der Schminke und den Bravorufen.
Dennoch will ich genau das. Hier sein.
Die erste Babuschka öffnet ihr Fenster. »Majetschka! Da bist du ja wieder. Komm herein. Ich habe etwas für dich.« Es ist das schiefe Haus der heiligen Natascha.
Ich hangle mich über den abschüssigen Fußboden in die Küche und komme mir dennoch geerdeter vor als auf all
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