Wanja und die wilden Hunde
abbrechen und die Geschichte nicht zu Ende erzählen …
Auch ich will natürlich unbedingt wissen, warum Wanja diese Entscheidung getroffen hat. Ich gehe also wie gewohnt auf unserem Pfad weiter und entdecke schließlich etwa zweihundert Meter vor mir einen vom Blitz getroffenen Baum, der den Weg versperrt. Aha, denke ich und beginne zu begreifen. Er wollte sich erst einmal aus der Ferne ansehen, was da los ist.
Eine Überprüfung und Erklärung für Wanjas Entscheidung scheine jedoch nur ich zu brauchen. Die Hunde fahren, während sie den völlig ungewohnten Umweg laufen, einfach mit dem fort, was sie gerade getan haben: schnüffeln, spielen, weiterlaufen.
Ich bin wie vom Donner gerührt. So etwas kenne ich nicht. In der Zeit, als ich noch nicht künstlerisch arbeitete und in ostdeutschen Betrieben tätig war, habe ich niemals Menschen kennengelernt, die nicht hinter dem Rücken des Chefs diskutierten, wenn dieser eine nicht sofort nachzuvollziehende Entscheidung getroffen hatte. Die Hunde jedoch schauten nicht einmal zum Ort des Geschehens. Sie verließen sich einfach auf Wanja.
In mir wächst ein Staunen.
Es hat bis heute nicht aufgehört.
Unterwegs
Vera hat in meinem zweiten Jahr in Lipowka Besuch von einer Dichterin aus Kiew – Galja. Galja geht stundenlang mit einem in die Ferne gerichteten Blick über die Felder, durch das Dorf, in den Wald spazieren.
»Ich konnte noch nie so gut Gedichte schreiben wie hier«, sagt sie, und in ihren hellgrünen Augen liegt ein wehmütiger Ausdruck, der fast jeden ihrer wenigen Sätze begleitet. Gern würde sich Galja ein kleines Haus kaufen und die Sommer hier verbringen. Sie ist jedoch, wie sich das für eine Dichterin gehört, arm wie eine Kirchenmaus.
Galja liebt die Hunde. Und die Hunde mögen sie. Selbst Wanja lässt sich, entgegen seiner sonstigen Art, gleich von ihr berühren. Mir kommt eine Idee.
»Galja, ich muss bald zu einer Tournee fahren. Möchtest du in dieser Zeit nicht in meinem Haus wohnen und mit den Hunden leben?«
Galja zieht bereits eine Woche vorher bei mir ein, damit sie unser Leben kennenlernen kann. Statt in die Natur zu gehen, sitzt sie jetzt im Hof oder vor dem Haus bei den Hunden und begleitet uns auf unseren Gängen durch das Dorf und zum Fluss. Ich bekomme fast ein schlechtes Gewissen, dass ich sie vom Arbeiten abhalte. Nur Galja scheint sich darum nicht im Geringsten zu sorgen. Wirkte sie sonst immer nur zur Hälfte anwesend und zur Hälfte im Reich der Dichter, ist sie jetzt sehr präsent und strahlt eine Lebensfreude aus, an die Vera und ich uns erst einmal gewöhnen müssen.
Ich gehe mit einem besseren Gefühl als beim ersten Mal von Lipowka weg, obwohl mir die Hunde jetzt schon fehlen. Vera kommt mit mir. Ohne sie wäre ich sicher mehrfach an den Umständen, die mich auf meinen Tourneen in Russland (1991 bis 1997) begleiteten, gescheitert.
So stranden wir zum Beispiel in einem Bus mitten in der Pampa, weil der Reifen geplatzt ist. Alle Männer stehen rauchend um den Reifen herum und diskutieren den Schaden. Keiner von ihnen unternimmt jedoch den Versuch, ihn zu reparieren. Irgendjemand holt stattdessen Wodka aus seinem Gepäck, und eine fröhliche Zusammenkunft beginnt, deren Ende für Vera und mich nicht absehbar ist.
»Bitte, können Sie uns sagen, wann der Bus repariert wird?«, frage ich.
» Wsjo budet horoscho !« (»Alles wird gut!«), lautet die bereits erwartete Antwort.
» Wsjo sud’ba « (»Das ist Schicksal«), versuche auch ich mich zu trösten.
Und tatsächlich. Nach zwei Stunden kommt ein weiterer Bus vorbei und bleibt stehen. Die Fahrer begrüßen sich freundschaftlich.
» Nu, brat, tebe nuzhna pomostsch ?« (»Na, Bruder, brauchst du Hilfe?«), fragt der Dazugekommene.
Noch eine weitere Stunde lang wird ausführlich diskutiert, wie der Reifen kaputt gehen konnte und wie lange er dem Bus schon diente, und die Fahrgäste des zweiten Busses haben sich inzwischen zu der vom Wodka beschwingten fröhlichen Runde des ersten Busses gesellt.
Mein Konzert an diesem Tag verschiebt sich von 19:30 Uhr auf Mitternacht. Obwohl es zu dieser Zeit noch kein Handy gibt, um unsere Verspätung anzukündigen, erwarten uns die Konzertbesucher vollzählig und in guter Stimmung. Das ist Gottvertrauen, denke ich und beginne das Ganze als Abenteuer zu betrachten.
So gebe ich mein erstes ungeplantes Nachtkonzert.
Weiterhin muss ich zwei Konzerte im Freien stattfinden lassen, weil das Konzerthaus im ersten Fall abgebrannt ist und
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