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Wanja und die wilden Hunde

Wanja und die wilden Hunde

Titel: Wanja und die wilden Hunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maike Maja Nowak
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sein scheint, und frage: »Entschuldigen Sie, wie alt sind Sie?«
    »Was tut das zur Sache?«, empört sie sich.
    Natürlich will ich darauf hinaus, dass auch ihr niemand vorschreibt, ihre Arbeit aufzugeben, nur weil sie vielleicht über sechzig ist und obwohl es ihr sehr viel bedeutet und sie es wunderbar macht. Ich verkneife mir jedoch einen Vorstoß in diese Richtung. Ich will ja für Viktor etwas erreichen.
    »Wissen Sie, dem Hund sind elf Jahre genommen worden: zehn Jahre in Einzelhaft auf einem Balkon und ein Jahr im Tierheim. Er hat sich mit Kraft und Mut erst jetzt ein Leben erkämpft und beginnt nun gerade damit. Er ist in diesem Sinne ein Junghund, der nun tun möchte, was er sein ganzes bisheriges Leben verpasst hat. Vielleicht kann man ihn in diesem Falle zumindest zur Prüfung antreten lassen und vor Ort begutachten, ob er infrage kommt? Und wenn er nur für ein Jahr arbeiten kann, auch das würde sich lohnen.«
    Viktors Geschichte rührt die Vorsitzende. Er darf zur Prüfung antreten.
    Die Prüfung findet in einem Altenheim statt.
    Ich muss Viktor dazu bringen, sich in einem Gang hinzulegen, und mich weit von ihm entfernen, er muss mit und ohne Leine bei Fuß laufen und »Sitz« und »Platz« machen. Wenn ihm jemand Leckerchen hinhält, darf er sie nicht ohne meine Erlaubnis nehmen, er muss es zulassen, dass ein Tierarzt und andere Leuten ihn überall berühren, und er muss eine Situation überstehen, als jemand hinter einer Ecke hervorschießt, an der er angebunden ist, und ihn massiv erschreckt. Er bewältigt alles mit Bravour, und seinem Blick entnehme ich, dass er auf die wirklich schwierigen Herausforderungen noch wartet.
    Viktor besteht den Eignungstest mit »sehr gut«.
    »Vorgestern hatten wir eine Anfrage aus dem Prenzlauer Berg vom Altenheim ›Haus am Park‹, da suchen sie händeringend nach einem Therapiehund.« Die Vorsitzende des Therapiehunde-Vereins gibt mir einen Zettel, auf dem eine Adresse und eine Telefonnummer stehen. Das Heim ist zehn Minuten zu Fuß von uns entfernt.
    Viktor blüht bei der Arbeit mit den alten Menschen endgültig auf. Dass sich hier alles um ihn dreht, er Leckerchen erhält, viele Kunststücke vorführen kann, Neues lernt und für Geübtes Applaus bekommt, zeigt Wirkung. Er läuft in einem sehr schnellen Trab, wenn es zum »Haus am Park« geht, und mit stolz erhobenem Schwanz, wenn er wieder herauskommt.
    Viktor ist jetzt berufstätig, und das zeigt er mit Selbstbewusstsein und Freude – ähnlich einem Menschen, der nach sehr langer Arbeitslosigkeit endlich wieder Anerkennung findet.
    Auch für mich ist diese ehrenamtliche Arbeit eine Zeit der Gesundung. Die alten Menschen erinnern mich an meine russischen Bauern. Ich denke mir immer mehr Dinge aus, die den Bewohnern und Viktor Freude machen könnten.
    Eine Übung in einer der Therapiestunden nenne ich »Casino«. »Achtung, Achtung! Die Lichter gehen an. Das Casino ist eröffnet. Wer hat die höchste Zahl. Wer gewinnt?«, sage ich dann, um Stimmung zu zaubern. »Herr B., Viktor würfelt zuerst für Sie. Achtung, jetzt geht es los!« Ich lege einen großen Schaumwürfel vor Viktor, und er haut mit der Pfote und seiner ihm eigenen Resolutheit den Würfel zur Seite. »Eine Vier! Eine Vier! Das ist gut, dann können Sie sich noch steigern, Herr B.«
    Ein anderer Bewohner, der in seinem Rollstuhl eingeschlafen ist, erwacht von meinem Geschrei und hat wohl gerade noch »eine Vier« gehört, denn er hebt ruhig den Arm und sagt: »Ich möchte auch ein Bier.« Das Zusammensein mit den Alten ist wie das Leben selbst: tragisch, zärtlich, komisch, ernst.
    Mit Viktor als Vortrupp gelingt es tatsächlich, Frau F. wieder zum Sprechen zu bringen, die seit zwei Jahren kein Wort mehr gesagt hat. Sie wird meine neue »Großmutter«. Wenn ich nach der Therapie mit ihr im Park spazieren gehe, blickt sie auf Viktor, dann auf mich, reibt sich über ihren dünnen Bauch und sagt mit glänzenden Kinderaugen: »Mmmhhh.«
    Sie erzählt Kriminalromane, die sich ungefähr so anhören: »Eins, zwei, drei. Hanga, kira, lurrr, meng.« Ihr Blick wird dramatisch. »Wumma, wense, du, langse.« Ihre Hände fahren wild durch die Luft. »Frende küssen. Küssen, küssen. Hungeeer.« Dabei küsst sie mir den Handrücken wie die alte Nastja, und ich nehme sie in den Arm. Ich fühle mich in meine Zeit bei den Babuschkas zurückversetzt.
    Durch eine Toreinfahrt nimmt Frau F. etwas wahr, das ihr Interesse erregt. Mit ausgestrecktem Zeigefinger geht sie

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