Wanja und die wilden Hunde
Pistolenkugel gefunden, die in Viktors Schultergelenk verkapselt ist. Niemand weiß, wie lange der Hund mit Schmerzen auf dem Balkon lag und um sein Leben kämpfte. Niemand kann sagen, wer geschossen hat. Ein Nachbar, dem der winselnde Hund zu laut war?
Es braucht ungefähr eine Woche, bis sich das Fragezeichen in Viktors Gesicht auflöst. Er versteht plötzlich, dass er nur genau das wiederholen muss, was er in dem Moment tut, in dem das Klicken zu hören ist. Von diesem Moment an bekommt das Ganze eine Eigendynamik. Ich habe und hatte wie jeder andere Hundebesitzer natürlich immer nur hochintelligente Hunde – bis auf Husar, zugegebenermaßen –, aber einen Hund wie Viktor gibt es dennoch nicht so häufig. Er lernt, jetzt wo er das Lernen einmal gelernt hat, im Dreiminutentakt, und mir gehen schließlich die Ideen aus.
Er kennt alle Grundsignale, er kann alles Mögliche suchen, bringen, mit der Pfote auf einen Topf schlagen, die Wäsche aus der Waschmaschine holen und weitere Kunststücke, die ich nach und nach zu einer kleinen Kür verbinde, weil die einzelnen Elemente ihn nach kurzer Zeit unterfordern.
Viktor, der Sieger
Er wird der Oliver Kahn unter den Hunden und sichert meine Terrassentür, die das Tor darstellt, wenn ich mit seinem Lieblingsball darauf schieße. Meine Scheibe bleibt nicht nur heil, weil der Ball sehr weich ist, sondern auch, weil Viktor ein hervorragender Torwart ist. Mit zwölf Jahren beginnt er, Frisbee-Scheiben zu fangen, als hätte er nie etwas anderes getan, während ich noch das Werfen übe.
Viktor ist bereit zu leben.
Nachdem er durch das Schwimmen und die ungewohnte Bewegung abgespeckt und Muskeln aufgebaut hat, sieht man auch, was für ein Hund eigentlich in ihm steckt: Aus Viktor ist eine hübsche Mischung aus Border Collie und Spitz geworden. Schwarz, mit seidigem langem Fell und einem weißen Vorderpfötchen. Bis auf seine Panik vor knallenden Geräuschen, die von dem Pistolenschuss herrühren mag, hat Viktor alle Ängste verloren.
Er entdeckt, wie er mit Charme fremde Menschen zu Streicheleinheiten bewegen kann. So lässt sich zum Beispiel – schwanzwedelnd und lieb guckend – die Wartezeit neben mir in einer Menschenschlange vor dem Postschalter verkürzen.
Ich bedaure mitunter, kein Hund zu sein. Mir bleibt eine derartige Form der Kontaktaufnahme verwehrt. Dennoch habe ich durch Viktor in kürzester Zeit neue Menschen kennengelernt – Hundebesitzer, Hundeliebhaber und Nachbarn. Viktor ist eine Einladung für ein Gespräch. Ich lerne wieder etwas, was ich zuletzt bei den Babuschkas getan habe: plaudern. Ein solches Gespräch plätschert wie eine kleine Quelle dahin. Sie spendet kurz unbeschwerte Freude und versickert dann, ohne dass man es bedauert.
Jetzt, wo ich Viktor in die Welt geführt habe, führt er mich zurück zu ihr. Seine Lebensfreude steckt mich an. Ich beginne zu glauben, dass ich alles schaffen kann, weil auch er seine unglaubliche Vergangenheit besiegt hat.
Ebendieser schöne Moment jedoch ist auch der Punkt, an dem meine Angst vor dem Verlust eines geliebten Wesens zurückkehrt. Es ist die Angst, Viktor bald wieder verlieren zu können, weil er bereits ein so hohes Alter erreicht hat. Es gelingt mir nicht, jeden Tag mit ihm einfach zu genießen, sondern ich spüre immer ein Ziehen in der Magengegend, wenn es ganz besonders schön mit ihm ist. Als er an einem Sommertag in meinem Garten schreiende Laute von sich gibt und kollabierend zusammenbricht, nehme ich ihn auf den Arm und renne weinend zur Tierärztin. Ich schaffe es gerade noch, ihn in der Praxis abzulegen, dann breche auch ich zitternd zusammen. »Wespen- oder Bienenstich – eine allergische Reaktion«, beruhigt mich die Tierärztin und ist sichtlich verwirrt über meinen Zustand.
Auf Arte sehe ich eine Sendung über Therapiehunde in Frankreich. Im Jahr 2003 ist dieses Verfahren in Deutschland noch nicht sehr verbreitet. Das wäre genau der richtige Job für Viktor, denke ich, als ich die Arbeit mit Demenzkranken und einem Hund sehe. Was ich noch nicht weiß, ist, dass es auch genau die richtige Arbeit für mich sein wird.
Ich melde Viktor also mit zwölf Jahren telefonisch zur Therapiehunde-Prüfung in einem Verein für Therapiehunde an.
»Zu alt«, befindet die Vorsitzende.
»Viktor ist kerngesund«, sage ich.
Sie bleibt dabei. »Bis zu einem Alter von neun Jahren, das ist das höchste der Gefühle.«
An der Stimme der Vorsitzenden höre ich, dass auch sie keine junge Frau mehr zu
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