Wanja und die wilden Hunde
zielstrebig in den Innenhof eines Häuserkomplexes. »Hungaaa, Liba, looo!!!« Sie deutet auf eine Schaukel und lacht mich an. Langsam setze ich mich auf die Schaukel und klopfe mir auf den Schoß. »Kommen Sie, kommen Sie.« Die dünne alte Frau schiebt sich wie ein Kind vorsichtig auf meinen Schoß. Nach ein paar kleinen Schauklern schreit sie begeistert auf.
Als wir den Hof verlassen, sehe ich aus den Augenwinkeln einen Farbtupfer in der Häuserfront. Ich drehe mich um. Eine Frau im selben Alter wie Frau F. schaut aus einem Fenster der oberen Stockwerke. Ihr Blick zeigt eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Faszination.
Da ich zu dieser Zeit noch keinen Führerschein habe, suche ich für Viktors und meine Rückkehr ins Leben auf dem Berliner Stadtplan nach immer neuen grünen Orten, die fast unberührt und mit der S-Bahn zu erreichen sind. Wir verlaufen uns nun regelmäßig in Wäldern, weil wir in die falsche Richtung gehen, auf Wegen, die nur zum Holzschlagen geebnet wurden und mitten im Unterholz enden oder in menschenleeren fremden Ortschaften, und ich fühle mich in meine Kinderzeit zurückversetzt bzw. in eine, die ich gerne gehabt hätte. Gemeinsam auf Abenteuersuche.
Viktor schnüffelt mit Begeisterung, zerlegt Stöcke und folgt Fährten. Ich konzentriere mich, wenn ich mich verlaufen habe, auf das Geräusch vorbeifahrender Autos – eine Straße oder Autobahn taucht irgendwann in jeder Landschaft in der Ferne auf.
Einmal kraxeln wir nach so einem nicht ganz freiwilligen vierstündigen Waldaufenthalt einen Hang hinauf und landen an einer Tankstelle. Ein etwa 50-Jähriger in stilechter Fahrradmontur, die eng an dem aus der Form geratenen Leib anliegt, steht neben seinem Rennrad und betrachtet eine Karte. Als er mich und Viktor sieht, öffnet sich sein Mund. (Später auf der Toilette sehe ich, dass sich in meinem Gesicht Dreck und Schweiß vermischt haben.)
Froh, einen Menschen zu treffen, der eine Karte bei sich hat, frage ich strahlend: »Guten Tag, können Sie mir bitte sagen, wo wir sind?«
Der Mann faltet hastig die Karte zusammen und schaut weg.
Verwirrt gehe ich in die Tankstelle und frage dort nach. Mit einer Auskunft, einer Schüssel Wasser für Viktor und einem Eis komme ich wieder hinaus. Als nur noch ein kleiner Rest Eis am Stiel ist, halte ich ihn Viktor hin. Der Fahrradfahrer sieht fassungslos zu, wie Viktor mit fast aus den Höhlen springenden Augen das Eis abschleckt. Dann wendet er sich angewidert ab.
Für mich hingegen ist die Gemeinschaft mit Viktor nach dem überstandenen Abenteuer ein Moment der Vollkommenheit und des Glücks.
Der Neuanfang
Nach drei Jahren ehrenamtlicher Arbeit fragt mich der Leiter des Heims »Haus am Park«, ob ich nicht auch andere Hunde zu Therapiehunden ausbilden möchte. Sie hätten ja schließlich eine große eingezäunte Wiese hinter dem Heim, die ungenutzt sei.
Das Angebot kommt völlig überraschend, dennoch weiß ich bereits zwei Tage später, dass ich es annehmen werde. »Kann ich neben den Therapiehunden auch noch eine andere Art Ausbildung anbieten? Zum Beispiel für Welpen und Familienhunde? Die Heimbewohner könnten beim Training zuschauen und anschließend die Hunde streicheln.«
»Na klar«, antwortet der unkonventionelle Heimleiter und gibt damit den Startschuss für mein »Dog-Institut«.
Ich hänge Zettel auf und kündige Kurse an. Sie sind nach einer Woche ausgebucht. Ich hatte nach meinem Fernstudium zur Hundepsychologin neben meinen regulären Jobs bereits als mobile Hundetrainerin gearbeitet. Nun kündige ich kurz entschlossen alle anderen Beschäftigungen und konzentriere mich ganz auf das Dog-Institut.
Ich frage eine Kundin, die arbeitslos ist und bei der ich ein gutes Gefühl habe, ob sie bei mir lernen und mitarbeiten möchte. Sie sagt sofort Ja. Ihr Name ist Anja Baumert. Sie ist heute Trainerin und stellvertretende Leiterin des Instituts.
Wir beginnen mit positiver Verstärkung zu arbeiten, wie fast alle Trainer, die Gewalt ablehnen. Das klappt bei den meisten Hunden auf dem Platz wunderbar. Bei Hunden jedoch, die weder Leckerchen noch Spielzeug wollen, klappt es überhaupt nicht.
Auch die Hunde, die auf dem Platz alles mit Bravour machen, vergessen laut Aussage der Hundebesitzer im Alltag sofort alles Gelernte, wenn eine Katze, der Lieblingsfeind oder der Lieblingsfreund auftauchen. Es gleicht jedes Mal einem Lottospiel, ob Letztere oder die eingeübten Konditionierungen wie »Sitz«, »Platz« und »Bleib«
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