Wanja und die wilden Hunde
will, und ich habe mir alle angesehen. Danke«, füge ich abwehrend hinzu und will gehen.
Sie schaut mich seltsam an und sagt: »Also einen älteren ham wir noch, aber wanderfreudig und überhaupt alles andere … Ich denke nicht, dass Sie den wollen.« Sie winkt ab.
Es ist dieses Abwinken, dass sowohl das Schicksal des unbekannten Hundes besiegelt als auch das meine.
»Wo soll er denn sein?«, frage ich herausfordernd.
Sie führt mich zu einem Zwinger, in dem ich nur einen American-Staffordshire-Terrier sehe, den ich bereits kenne. Er wedelt freudig mit dem Schwanz, wirkt sehr jung, verspielt und mehr als wanderfreudig. Ich blicke ratlos zu der Frau.
Die Tierpflegerin weist auf eine Plüschhöhle in der Zwingerecke, in deren Eingang ich bei genauerem Hinsehen zwei kleine Lichter erkenne, die man als Augen deuten könnte. Sie macht ein paar lockende Geräusche und erklärt mir dann, warum der Hund nicht herauskommen wird: zehn Jahre Einzelhaft auf einem Balkon. Fast zum Skelett abgemagert. Ein Fall von »Animal Hoarding« – ein Hund und über vierzig Katzen, die in der zum Balkon gehörigen Ein-Raum-Wohnung lebten. Der Hund hat Angst vor Menschen, Geräuschen, anderen Hunden. Allem. Seine Muskeln sind nicht ausgebildet, weil er nie Bewegung hatte. Laufen ist für ihn nicht möglich.
Sie entschuldigt sich gerade dafür, dass sie mich überhaupt zu dem Zwinger geführt hat, als ein schwarzer Kopf mit vor Angst geweiteten braunen Augen aus der Höhle schaut. Der Hund kriecht mit schrillen Fieptönen auf uns zu. Es ist nicht zu erkennen, was ihn dazu antreibt, denn man sieht, dass er sich fürchtet.
Nach seinen bisherigen schrecklichen Erfahrungen hat es das Tierheim mit dem Hund sehr gut gemeint. Aus dem beschriebenen Skelett ist eine dicke schwarze Fellwurst geworden, die durch die Anstrengung des mühsamen Kriechens um Luft ringt.
»Der Hund ist vermittelt, ich nehme ihn«, höre ich mich plötzlich sagen und schaue dabei sicher genauso verdattert drein wie die Frau.
Unterwegs nach Hause ist der Hund beunruhigend ruhig. Sein Blick weicht mir aus, und ich sehe, dass er vor Furcht so flach wie möglich atmet. Ich bekomme Angst vor meiner eigenen Courage.
Unsicher, ob ich diesem Hund wirklich helfen kann, lege ich ihn zu Hause auf meinem Wohnzimmer-Teppich ab. Sein Verhalten ändert sich augenblicklich. Er wälzt sich auf dem weichen Material wie ein frisch gebackener Millionär in 500-Euro-Scheinen. Vielleicht erinnert ihn der Teppich an ein schönes Erlebnis aus seiner Welpenzeit. Vielleicht weiß der Hund aber auch nur früher als ich, dass jetzt alles gut werden wird. Ich nenne ihn Viktor.
Viktor und das Leben
Mein innerer Frühling mit Viktor ist eigentlich ein Sommer. Es ist heiß, und das Badewetter bringt mich auf die Idee, ihn beim Schwimmen wieder Muskeln aufbauen zu lassen. Drei Urlaubswochen lang fahren wir täglich mit dem Fahrrad und einem Anhänger zum Plötzensee.
Danach beginnt Viktor, wenn auch noch etwas wacklig auf den Beinen, zum ersten Mal die Welt zu entdecken.
Viele Ängste hat er bereits in kurzer Zeit überwinden können. Er zuckt nicht mehr vor Wiesen zurück, vor Autos, Fahrrädern oder vor vertrauten Menschen. Dennoch bekommt er weiter Panikattacken, sobald es knallt, wenn eine Sirene ertönt, ein Fremder auf ihn zukommt oder sich ein anderer Hund nähert.
Um mir viele Stunden mit einem Hundetrainer zu ersparen, investiere ich das Geld in ein Fernstudium zur Hundepsychologin an einem anerkannten Institut. Ich habe ja nun genug Freiraum im Kopf. Und ich will meinen Hund verstehen lernen.
Ich nutze alle Formen der Gegenkonditionierung und positiven Verstärkung, doch ein Durchbruch gelingt uns erst, als Viktor das Lernen lernt.
Ich sitze mit einem Klicker (Knackfrosch) vor ihm und versuche, ihm »Touch« beizubringen – er soll etwas mit der Nase berühren, wenn ich es ihm hinhalte. Sobald Viktor versehentlich mit der Nase an den Ball kommt, klicke ich mit dem Knackfrosch, und er bekommt ein Leckerchen. Oft tippt er ratlos gegen den Ball, den Klicker und meine Hand, weil er nicht versteht, was ich von ihm will. Sein Gehirn ist das Lernen nicht gewohnt. Das Spaßhaben. Erfolgserlebnisse.
In dem Hund leben noch immer Schrecken und Todesängste. Niemand weiß, wie oft er auf dem Balkon fast verhungert ist, bevor sich der Zivildienstleistende der psychisch kranken Frau wieder an ihn erinnerte, der ja auch noch vierzig Katzen zu versorgen hatte.
Beim Röntgen wird eine
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