Wanja und die wilden Hunde
Die Wohnung ist meine Höhle.
Ich habe einige Dinge aus Lipowka bei mir, die ich einer Freundin geschenkt hatte. Das Ortsschild, das der Vorbesitzer meines Hauses als »Flicken« auf den Fußboden genagelt hatte und das ich als »Souvenir« mit nach Berlin brachte, Fotos und Schafwollsocken. Die Freundin gibt mir die Sachen in einem Koffer mit den Worten zurück: »Du brauchst diese Dinge mehr als ich.« Auch das große Schachspiel mit den handgeschnitzten, Kopftuch tragenden Bäuerinnen, mit dem Vera und ich in Lipowka spielten, gehört dazu, da ich es mit auf die Tournee nach Deutschland genommen hatte.
Es ist eine zeitlose Zeit, in der ich versuche, jeden einzelnen Tag zu bestehen.
Als meine Geldreserven zu Ende gehen, suche ich nach einer Arbeit, um nicht beim Amt um Unterstützung bitten zu müssen. Ich nehme einen Halbtagsjob an, der mir finanziell nicht reicht, finde noch einen Job, der zweimal wöchentlich vier Stunden umfasst, und schließlich noch einen dritten mit ebenfalls zweimal vier Stunden wöchentlich. Ich hetze von einer Arbeitsstelle zur nächsten, verbringe die S-Bahn-Fahrten dösend und falle abends sofort in mein Bett. Durch die Erschöpfung jedoch kann ich endlich wieder richtig durchschlafen.
Ein Jahr lang besteht mein Leben nur aus Arbeit und Schlaf. Ich treffe mich weder mit Freunden, noch lerne ich neue Menschen kennen.
An den Wochenenden laufe ich durch den Wald. Es ist schwer, hier eine Ecke zu finden, in der nicht irgendwann wieder das Rauschen irgendeiner Autobahn zu hören ist.
Eine Stille, wie ich sie von Lipowka kenne, gibt es hier nicht.
Frühling
Erwachen
Es ist ein Freitagmorgen.
Ich warte an der S-Bahn. Ich muss zur Arbeit.
In meinem ersten Job hauswirtschafte ich – man kann auch putzen dazu sagen –, im zweiten gärtnere ich, im dritten Job unterrichte ich an einer Schule die Benutzung eines Grafikprogramms sowie eines Programms, mit dem man Websites erstellt. (Ich selbst habe mir diese Ausbildung wenige Monate nach meinem Burn-out als kreative Beschäftigung spendiert.) Es macht Spaß, anderen das beizubringen, was einem selber Freude macht. Meine Putz- und Gärtnerjobs sind körperlich sehr anstrengend, da sie oft hintereinanderliegen. Immerhin bekomme ich das »Fitnessprogramm«, wie ich es nenne, bezahlt und habe dabei einen freien Kopf zum Nachdenken. Zudem erinnert mich die Arbeit mit den Händen ein wenig an meine Zeit in Lipowka.
Freitag ist ein gnädiger Tag. Vier Stunden am Vormittag, dann Feierabend.
Ab Montag liegen drei Wochen Sommerurlaub vor mir. Ein Zeitraum, der mir auch Angst macht. Es ist freie Zeit, die gefüllt werden muss.
Das erste Mal nach eineinhalb Jahren.
Es ist der 2. Juli 2002.
Die Sonne bricht durch den Wolkenhimmel und findet in einem kleinen Strahl den Weg unter das S-Bahn-Dach, genau auf die Zeitanzeige.
Es ist Punkt 8 Uhr. Ich erinnere mich deshalb so genau daran, weil ich in diesem Moment aus meiner Starre erwache. Plötzlich weiß ich, dass ich heute Nachmittag ins Tierheim gehen, einen der drei Jobs kündigen und diese Zeit fortan mit einem Hund verbringen werde.
Mich euphorisiert dieser Entschluss so sehr, dass ich mit jeder Menge Adrenalin meine Arbeit erledige. Meine plötzliche Veränderung bleibt nicht unbemerkt. Ich sprühe vor Charme, und bei meiner Anfrage, ob ich einen Hund mit zur Arbeit bringen dürfe, stoße ich auf keinerlei Widerstände. Für mich ist das ein gutes Omen, falls ich überhaupt noch einen Rest Zweifel in mir trage.
Mit pochendem Herzen und weichen Knien betrete ich das Tierheim. Gleich wird sich entscheiden, mit wem ich künftig mein Leben teilen werde. Unter all den bellenden und aufgeregten Hunden, denen täglich unzählige Fremde in ihre »Schlafzimmer« schauen, sehe ich eine weiße Schäferhündin, die mich mit großen schwarzen Augen anblickt.
Die ist es, denke ich, einem ersten Impuls folgend.
Sie ist es nicht, teilt mir eine Mitarbeiterin des Tierheims mit, denn die Schäferhündin ist bereits vermittelt und wird morgen abgeholt.
Ich bin völlig überrascht. Ich war mir so sicher, dass »mein« Hund hier auf mich wartet, und jetzt ist er bereits adoptiert. Damit habe nicht gerechnet. Mir kommen Tränen der Enttäuschung.
»Was für’n Hund sollt’s denn sein?«, ruft die Tierpflegerin mir hinterher, als ich mit hängenden Schultern davonschleichen will.
»Ein älterer, wanderfreudiger Hund«, sage ich leise. »Ich habe aber keinen gesehen, den ich außer der Schäferhündin
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