Wanja und die wilden Hunde
Gefühl von Schwerelosigkeit, einen großen Hund auf diese Weise an der Leine zu führen.
Die Kundin nimmt ihren Hund nicht unbeeindruckt in Empfang. »Aber in der Natur würde er doch auch nicht immer hinter dem Leithund laufen«, lautet ihr nächster Einwand gegen die neue Erziehungsform.
»Das ist absolut richtig«, stimme ich ihr zu. »Aber in der Natur treffen auch nicht fünfzig fremde Hunde am Tag aufeinander wie hier in der Stadt, und sie werden auch nicht von Wesen festgehalten und in ihrem Verhalten eingeschränkt, die Hundebegegnungen nicht einschätzen können. Mir geht es hier nicht darum, ob Hunde das normalerweise so machen oder nicht, sondern darum, dass sie in der Stadt etwas tun müssen, was sie sonst niemals tun – nämlich an einer Leine laufen und dies auch noch auf eine bestimmte Art und Weise. Wenn wir es weiter mit ›bei Fuß‹ versuchen, wäre das so, als würde ich Sie bitten, mich während des Laufens ununterbrochen anzulächeln. Der Hund müsste also fortwährend aktiv etwas tun und daran denken, nicht zu ziehen, anstatt sich zu entspannen.«
Es wird zwar noch einige Zeit dauern, bis ich weiß, wie man auch anderen Menschen diese einfache Form der Hunde zu agieren, richtig vermitteln kann, doch erweist sich meine Entscheidung, so zu arbeiten, als Geschenk.
Fortan ist es möglich, sich situativ mit Hunden zu verständigen. Mühevoll aufgebaute Konditionierungen gehören der Vergangenheit an. Wenn ich eine Entscheidung zur Sicherheit des Hundes treffe, kann ich sie ihm nun von jetzt auf gleich verständlich machen. Keine ausgestreckte, beschwörende Hand mehr bei »Bleib« und ein eilig gegebenes Leckerchen, wenn es kurz klappt. Kein angespannt dasitzender Hund, der auf die Auflösung des Kommandos wartet. Ich erkläre einfach den Raum um die Stelle, an der der Hund bleiben soll, zum Tabu. Ich sage ihm auch in diesem Fall nur, wo er NICHT sein soll.
Dadurch kann er sich an der Stelle, an der er bleibt, entspannen. Es gibt nichts mehr zu tun für ihn. Kein »Sitz«, kein »Platz«, kein »Bleib«.
Ich beginne, Hunde wieder zu sehen. Wanja kehrt zurück in mein Leben.
Felix, Bambino, Alma, Anton, Husar, Laska, Milyi, Baba und Wasja sind in irgendeiner Form in jedem Hund zu finden, mit dem ich arbeite. Stehe ich vor einem Problem, frage ich mich, wie meine Hunde es gelöst hätten.
Ich kann aufhören, Viktor mit schätzungsweise sechzig Kommandos am Tag zu belästigen. »Sitz«, »Platz« und »Bleib« streiche ich aus meinem Wortschatz und agiere nur noch mit einem Stopp.
Ich zeige Viktor mit einer Übung, dass ich als Stoppgeräusch kein Knurren verwende, sondern ein »Scht«. Da Viktor sehr verfressen ist, stelle ich eine volle Schüssel mit Putenfleisch vor ihn auf den Boden – begleitet von einem lauten »Scht«. Begeistert darüber schießt er nach vorne und will den Kopf in die Schüssel tauchen. Ich bin schneller, stelle meinen Fuß vor die Schüssel, schiebe ihn mit dem Fuß leicht zurück und hindere ihn so, an das Futter zu kommen. Das wiederhole ich solange, bis bereits ein »Scht« ausreicht, um ihn zu bremsen. Ihm ist klargeworden, dass immer eine Konsequenz erfolgt, wenn er auf das Stoppgeräusch nicht reagiert.
Unser Zusammenleben wird sehr still, und ich erlebe (wie hoffentlich auch Viktor) ein absolut befreiendes Gefühl. Jetzt, wo ich ihn nur noch in wirklichen Gefahrensituationen stoppen oder rufen muss, verringert sich meine Einmischung in seinen Tagesablauf rapide.
Um auch draußen eine Konsequenz folgen lassen zu können, wenn Viktor nicht stoppt oder nicht zu mir kommt, trainiere ich zwei Wochen mit Schleppleine. Ich gehe, laufe, springe, hechte immer erst zum Ende der acht Meter langen Leine, trete darauf und stelle dann erst eine Regel auf – wie »Scht« (Stopp) oder »Hierher«. So macht Viktor zuverlässig die Erfahrung, dass nicht er entscheiden kann, ob die Regel auch befolgt wird. Wenn er nicht stoppt, sichere ich nur mit den Füßen die Leine, gehe zu ihm und mache einen kleinen Abschnapper mit zwei Fingern. Mehr nicht.
Auch Wanja ließ sofort eine Konsequenz folgen, wenn sein Stopp ohne ausreichende Wirkung blieb. Er war dabei zwar sehr bestimmt, blieb aber immer völlig gelassen und ruhig.
Nach zwei Wochen bleiben Essensreste auf der Straße liegen. Wenn ich Viktor ansehe, dass er etwas in die Nase bekommen hat, mache ich »Scht«, und er dreht ab. Hat er es bereits im Maul, weil er es eher entdeckt hat als ich, lässt er es dann wieder
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