Wanja und die wilden Hunde
er gegen den Eimer haut. Als das ohne Wirkung bleibt, nimmt er den Kopf. Der Eimer schwankt, bleibt aber stehen. Dann schnappt er sich den kleinen Rand der Mülltüte, die ein wenig unter dem Deckel hervorschaut, und zieht – nun schon wutentbrannt – daran. Ein Tauziehen beginnt: Viktor gegen den Eimer. Wenn die Mülltüte durch sein Ziehen zu reißen droht, fasst er sofort einen neuen Zipfel nach. Der Eimer schwankt, fällt und mit ihm die Beute.
Viktor, der Sieger.
An seinem so gar nicht altersgerechten Temperament hat sich also nichts geändert, er ist jetzt nur sehr ausgeglichen und vor allem fähig, sich auch einmal ruhig zu verhalten.
Es ist wunderbar, dass ich seinen arthritischen Knochen nun an den Bordsteigen das ständige »Sitz« ersparen kann. Ich gehe jetzt mit ihm so über die Straße, wie ich sie auch allein überqueren würde. Bei Verkehr halte ich an (und stoppe ihn), wenn keine Autos kommen, gehen wir einfach weiter, da Viktor ja zuverlässig stehen bleiben würde, sobald ich es für nötig hielte.
Unser Zusammenleben wird sehr innig, einfach deshalb, weil die ganze Künstlichkeit des Prinzips wegfällt: aus Prinzip nicht auf das Sofa springen, aus Prinzip am Straßenrand warten, aus Prinzip draußen nichts vom Boden fressen. Endlich dürfen wir einfach zusammenleben und ich kann, je nach Situation, eine Entscheidung treffen, die mir sinnvoll erscheint. Die Zeit, die wir vorher mit dem ständigen Wiederholen von Kommandos verbrachten, damit sie im Ernstfall eventuell klappen, nutzen wir jetzt, um Spaß zu haben oder uns auszuruhen.
Auch durch die weggefallenen Verbalattacken entsteht neuer Raum, in dem ich Viktor ganz anders wahrnehme. Während es vorher ihm überlassen war, meine Sprache zu deuten, ist es nun für mich eine Herausforderung, auf seine Art zu agieren.
Ich finde durch diese reduzierte Form des Umgangs mit meinem Hund – reduziert auf die Umgangsformen von Hunden untereinander – zurück in eine Einfachheit, die ich nach meinem Weggang aus Lipowka verloren glaubte. Alles, was mich in seinem Überfluss und seiner Künstlichkeit in einer Starre gehalten hat, seit ich nach Deutschland zurückgekehrt bin, fällt langsam von mir ab wie ein unnützer Mantel.
Ich beginne, frei zu atmen.
Epilog
Auf den Tod eines geliebten Wesens kann man sich genauso wenig vorbereiten wie auf die Liebe, die einen plötzlich und unvermittelt trifft.
Der Tag, an dem Viktor 19-jährig stirbt, ist ein schöner Sommertag 2011. Ich schreibe gerade an dem Kapitel »Sommer« für dieses Buch.
Wir gehen eine abendliche Runde.
Viktor, der mittlerweile in einem Alter ist, in dem er keine langen Strecken mehr laufen möchte, geht es an diesem Tag außergewöhnlich gut. Ich beschließe daher, ihn nicht wie sonst nach 500 Metern zum Haus zurückzubringen, sondern mit Frieda und Tinka – zwei Hündinnen, die seit vier bzw. zwei Jahren mit uns leben – weitergehen zu lassen.
Er läuft wunderbar, schnüffelt interessiert und wedelt dabei aufgeregt mit dem Schwanz. Er ist inzwischen blind und taub.
Es ist ein völlig windstiller Tag.
Wir biegen in den Wald ein, gehen eine kleine Runde, sind bereits auf dem Rückweg.
Das Krachen, das plötzlich zu hören ist, kann ich zunächst nicht orten.
Ich spüre etwas an meinem Rücken herunterfahren.
Als ich mich umdrehe, sehe ich noch den Ast auf Viktor fallen. In seinem Nacken knackt es laut.
Wenn das Schicksal gnädig ist, schenkt es jemandem nach einem langen Leben einen Sekundentod – etwas Besseres kann man sich für ein geliebtes Wesen gar nicht wünschen.
Das Schicksal war an diesem Tag mit Viktor vielleicht willig, jedoch nicht gnädig.
Die grausamen Bilder und Töne der letzten Viertelstunde im Leben meines Hundes verfolgen mich. Ich verstehe nicht, warum Viktor, der bereits ein so langes Dahinvegetieren auf dem Balkon hinter sich hatte und dessen eigentliches Leben erst so spät begann, nicht friedlich einschlafen durfte und der Ast sein Genick so unglücklich brach, dass er auf diese Weise leiden musste.
Ich werde krank.
Ich weine mehr, als dass ich nicht weine.
Mein Team fragt mich, ob ich das bevorstehende Seminar mit Hunderudeln leisten und leiten kann.
Nach all den schmerzhaften Abschieden in den letzten Jahren habe ich das Gefühl, nie wieder mit Hunden arbeiten zu können – und auch nicht mit Menschen.
Kurz vor Beginn des Seminars habe ich einen Traum, in dem ich Viktor wieder begegne.
Ich laufe einen Weg entlang und spüre plötzlich
Weitere Kostenlose Bücher