Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
»Es geht ihr schon seit Wochen schlecht, Mama. Sie kommt fast nicht mehr alleine hoch. Ich glaube schon, dass sie sich quält.« Meine Mutter sah mich traurig, aber verständnisvoll an: »Ja, findest du?« Wieder sprach die Ärztin mit ihrer betäubenden Wattestimme, übersprang mehrere Bedenken-Phasen und beschloss: »Glauben Sie mir, es ist das Beste.« Das war schon eigenartig, wie sich da aus Halbsätzen und Andeutungen ein der Milde geschuldetes Todesurteil manifestierte.
»Wollen Sie noch eine Runde mit ihm spazieren gehen?« Ganz glücklich über diesen Aufschub, sagte meine Mutter schnell: »Ja, das machen wir!« Wir leinten den Hund an und traten vor das Haus. Kein Regen, keine Sonne, kein Wind, nicht kalt, nicht warm, einfach nur norddeutsches Brei-Wetter. Ein Wetter, das man wachschütteln, nach dem man treten möchte. Dem Hund war das egal. Wir liefen mit ihm ein Stück auf dem Bürgersteig entlang. Er ignorierte seinen Zustand, kurzatmig schnüffelte er herum, hinkte unternehmungslustig, und das Geschwür pendelte hin und her.
»Wie konnten wir das nur so lange nicht bemerken? Schau dir das Ding mal an, Mama. Das ist riesig.« »Was sollen wir denn jetzt machen? Ich finde, das geht alles ein bisschen schnell.« »Ich glaube, die Ärztin hat recht.« »Aber es ist doch Martins Hund.«
Diesen Satz sagte meine Mutter oft. In dem Hund meines verunglückten Bruders hatte etwas aus einer früheren Zeit überlebt. Dieser hinkende, große, hechelnde Hund verband auch mich mit meinen Brüdern, meinen Eltern, mit einer Zeit, als ich noch fest daran glaubte, wir wären eine unzerstörbare Familie. Wir, die wir alle um den Tisch herum saßen und Fragen beantworten mussten. Wir, die Superfamilie. Ohne den Hund wären wir tatsächlich nur noch zu dritt im Haus: Vater, Mutter, erwachsenes Kind. Dieser todkranke Hund, das wurde meiner Mutter und mir auf dem Gehweg klar, hielt mit seinen gehechelten Speichelfäden die Reste unserer Familie zusammen.
»Entweder wir lassen sie jetzt gleich operieren«, sagte ich auf den Boden sehend, »oder sie muss hierbleiben, Mama. Sie noch mal mitzunehmen, das ist …« Meine Mutter nahm meine Hand, wir schlenderten ein Stückchen nebeneinander her und warteten auf den Hund, der in einigem Abstand hinter uns hertrottete. »Weiß du noch, früher?«, fragte meine Mutter und war dadurch sofort heiterer gestimmt. »Da hat sie so gezogen, dass ich sie gar nicht halten konnte. Wenn ich einen anderen Hund auf uns zukommen sah, musste ich sie an einen Baum oder Zaun binden. Dann haben wir doch dieses scheußliche Würgehalsband bekommen. Mein Gott, was die für eine Kraft hatte. Und immer dieser Wahnsinn an der Ostsee.« In uns beiden war sofort das Bild des Hundes hellwach, wie er jedes Mal vor Glück durchdrehte, wenn er das Meer sah. Wie ihn seine Wasser-Besessenheit, sobald er Wellen und Gischt roch, schier um den Verstand brachte.
Diese Erinnerungen machten aber den miserablen Zustand des sich erschöpft vor meine Füße setzenden Hundes noch augenfälliger. Er war am Ende seiner Kräfte. »Ja, es ist wohl wirklich das Beste. Machen wir es gleich, o. k.?« Ich nickte meiner Mutter zu. Ein paar Schritte weiter war ein Kiosk, ich sah die Eistafeln vor dem Eingang stehen. »Warte kurz, Mama, ich bin gleich wieder da.« Ich kaufte ein Bounty und kniete mich vor den Hund: »Hier, Blutsbruder, das ist für dich!« Der Hund liebte Bounty, bekam, wenn er Glück hatte, ein winziges Eckchen, aber diesmal hielt ich ihm beide Stücke hin. Ungläubig leckte er am ersten herum. »Na komm, los, nimm schon. Ist für dich.« Er war sehr unschlüssig. Würde ich es ihm wirklich geben? Sabber tropfte ihm aus der Schnauze. Ich schob die Schokolade in sein Maul, und er kaute und schmatzte beherzt drauflos. Das zweite Stück schnappte er mir aus der Hand und schlang es einfach hinab.
Wir machten uns auf den Rückweg zur Praxis. Die Tierärztin saß hinter ihrem klotzigen Schreibtisch. Die klein gewachsene, flinke Frau mit den raspelkurzen grauen Haaren sah uns erwartungsvoll an. »Und, wie haben Sie sich entschieden?« Meine Mutter dachte kurz, ich würde antworten, aber mir war plötzlich ganz mulmig geworden. War etwa ich die treibende Kraft hinter diesem Entschluss gewesen? Hätte ich es verhindern oder wenigstens hinauszögern können? Hatte das Leben meines Blutsbruders in meinen Händen gelegen? Warum war ich mir so sicher, dass es das Beste für den Hund war? Wollte ich der Ärztin
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