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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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bewegte sich seine Zunge, tippte tonlos an den Gaumen. »Was sagst du? Mensch, Ferdinand!« Er versuchte es erneut, formte Buchstaben, ohne einen Laut von sich zu geben. »Ferdinand, ich kann dich nicht verstehen. Was willst du sagen?« Unter größter Anstrengung, seine Angst niederringend, machte er einen weiteren Versuch.
    Leise, wie von ferne, eher geschnalzt als gesprochen, vernahm ich zwei Worte: »Du lebst?« »Was meinst du, Ferdinand?« Eine Spur deutlicher: »Du lebst?« »Na klar lebe ich. Ich steh doch hier vor dir.« Und jetzt, schon mit Spucke und Anfang und Ende: »Du lebst!«
    »Ferdinand, jetzt hör mal auf. Was ist los?« Seine belegte Stimme fand zurück in den Klang, seine Stimmbänder schienen wieder zu schwingen, und klar und deutlich wiederholte er: »Du lebst!« Ich nickte und lachte und sagte: »Das freut mich auch. Weißt du was, Ferdinand: Du lebst auch! Hallo! Schön dich zu sehen.«
    Er umarmte mich. Schrie immer wieder: »Du lebst! Du lebst!« Er hüpfte um mich herum und feierte meine Auferstehung. Er stammelte: »Nicht dein Bruder! Du bist nicht dein Bruder! Du lebst! Du bist nicht dein Bruder!« Wieder und wieder umarmte er mich. Aus dem winzigen Kirschmündchen des anderen Patienten rief es, ohne dass er die geringste Ahnung hatte, worum es ging: »Hurra! Der Kommissar geht um. Hurra!«
    Erst da begriff ich, dass Ferdinand mich und meinen verunglückten Bruder verwechselt hatte. Denn weg waren wir ja beide gewesen. Und so erstand ich an diesem Tag durch Ferdinand von den Toten auf.

Blutsbrüder
    Der Anblick meiner todtraurigen Eltern war für mich wesentlich schlimmer als mein eigener Zustand. Ich wusste gar nicht so recht, wie es mir ging. Ich weinte wenig, weinte eigentlich nur, wenn meine Eltern weinten. Sie machten zunehmend den Eindruck zweier willkürlich einander zugeteilter Verzweifelter, die sich aneinanderklammerten, ohne sich näher zu kennen. Schon immer war meine Mutter ein übertrieben schreckhafter Mensch und mein Vater ein schwerer Mann mit Hang zur Lethargie gewesen. Der Verlust ihres Sohnes potenzierte diese Eigenschaften ins Überdeutliche. Wie ein scharfes Messer schälte sie der Schmerz heraus aus ihrer vielleicht jahrelang nur vorgetäuschten Ausgeglichenheit. Bei jedem noch so nichtigen Anlass zuckte meine Mutter zusammen oder schrie auf. Knallte im Haus eine offen gelassene Tür im Wind, fuhr sie vom Sofa auf, als hätte sie Feuer gefangen – und dann brach sie weinend zusammen. Selbst ein plötzliches Niesen oder ein heruntergefallener Löffel rissen ihr die Arme in die Höhe, als müsste sie unsichtbare Mächte abwehren, und trieben ihr erneut die Tränen in die völlig übermüdeten Augen.
    Mein Vater dagegen schien in seinem Sessel so schwer vor Kummer geworden zu sein wie noch nie zuvor. So, als hätte sich sein Fleisch in ein massives Metall verwandelt, saß er bewegungslos, nicht ansprechbar, stundenlang da. Kein Kran der Welt hätte diesen gebrochenen Bronze-Mann aus dem Sessel hieven können.
    Und dann wurde auch noch unser Hund krank. Zwischen seinen Hinterbeinen entdeckte meine Mutter ein großes, unter der Bauchdecke hängendes Geschwür. Mein Vater tastete es behutsam ab, und wir wunderten uns, dass wir es nicht früher bemerkt hatten. Wie konnte diese Geschwulst so groß geworden sein, ohne dass wir sie entdeckt hatten?
    An seinem Lieblingsplatz, hinter dem Ohrensessel meines Vaters, wo der alt gewordene Hund seine Tage und Nächte verbrachte, musste in den letzten Wochen dieser ekelhafte Sack aus ihm herausgewuchert sein. Die Tierärztin, die wir noch am selben Tag aufsuchten, sah meine Mutter und mich fragend an: »Wie, und das haben sie erst jetzt bemerkt?« Sie wiegte den Tumoreuter in der Hand. »Wir könnten versuchen, zu operieren. Aber er ist schon recht groß.« Wir verabredeten einen Operationstermin und luden den Hund wieder in das Auto. Er saß auf der Rückbank und sah aus dem heruntergekurbelten Fenster. Dieser Anblick hatte mich stets erheitert, da seine Schlappohren durch den Fahrtwind um ihn herumflogen, ihm an den Kopf und vor die Augen schlugen.
    In den Tagen bis zur Operation umsorgten wir den Hund wie lange nicht mehr. Unser schlechtes Gewissen, ihn vernachlässigt zu haben, bescherte ihm liebevolle Ansprachen, ungeteilte Aufmerksamkeit und besondere Köstlichkeiten für seinen Napf. Er sah uns verwundert an und wedelte mit dem Schwanz. Oft bekam er einfach das gleiche Mittagessen wie wir, ein Stück vom Hackbraten oder

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