Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
eine Roulade. Ich legte mich, so wie ich das als Kind getan hatte, zu ihm. Ich war mir nicht ganz sicher, ob mit meinem Älterwerden mein Geruchssinn empfindlicher geworden war oder ob der Hund stärker stank als früher. Ich umarmte ihn und griff in sein Fell. So gehaart wie in den letzten Wochen hatte er noch nie. Über den Fliesenboden wehten Hundehaarbüschel, und die Sofakante, die der Hund auf seinem Weg hinter den Sessel streifte, war genauso mit Haaren überzogen wie der braune Teppichboden.
Ich dachte daran, wie eine Zeit lang mein mittlerer Bruder die Hundehaare von der Hundebürste gezupft und in einer Plastiktüte gesammelt hatte. Er plante, die Haare auf dem Spinnrad unserer Mutter zu einem Faden zu zwirbeln und sich einen Pullover zu stricken. Das würde, so mein Bruder, der Hingucker schlechthin – ein selbst gestrickter Landseer-Hundehaarpullover. Die Hundewolle reichte aber nur für eine kleine Tischdecke, vor der sich alle ekelten. Jahrelang lag sie bei meinem Bruder auf einem Hocker. Hin und wieder roch unser Hund beunruhigt an diesem Deckchen und knurrte. Seine Abneigung verstand ich gut. Man stößt ja eher selten auf etwas, das aus einem selbst gemacht wurde.
Als wir zum Termin in die Tierarztpraxis kamen, war das Wartezimmer leer. Meine Mutter und ich saßen auf den Plastikstühlen, und der Hund schnüffelte ausgiebig in die sicherlich von einem hochinteressanten Kleintiergeruch-Gemisch erfüllte Luft. Die Ärztin kam. Der Hund hechelte und konnte auf dem glatten Boden kaum aufstehen. Mehrmals rutschte er mit den Hinterbeinen aus. Ich griff ihm unter den Bauch und stellte ihn auf alle viere. Dabei schwang der Gebärmutterkrebs, den ich in diesem Moment vergessen hatte, gegen meine Hände. Die Ärztin sah diesem gestützten Aufrappeln und Hinstellen besorgt zu.
Wir gingen ins Operationszimmer. Der Hund hechelte schnell, stockend und leckte sich sein Geschwür. Die Ärztin setzte sich auf einen Hocker, nahm den Hundekopf zwischen ihre Hände, sah ihm in die stets in den Winkeln verschleimten Landseer-Augen: »Na? Sollen wir das wirklich machen? Hm?« Unser Hund kannte die Ärztin. Vertrauensvoll hoben sich seine Ohren ein wenig. Während sie ihn weiter hielt und streichelte, sich sein Atem beruhigte und die erfahrenen Arzthände gleichzeitig kraulten und die Lymphknoten hinter den Ohren ertasteten, sah sie meine Mutter an und fragte: »Hechelt sie immer so?« »Nein, eigentlich nicht. Heute ist es besonders schlimm.« »Wissen Sie, ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir das mit der Operation wirklich riskieren sollten. Sie ist nicht gut beieinander. Ist ja auch schon alt. Vielleicht tun wir ihr keinen Gefallen damit.«
Wir schwiegen. Das einzige Geräusch im sterilen Zimmer war das angestrengte Ein- und Ausatmen des Hundes. »Sollen wir sie wieder mitnehmen?«, fragte meine Mutter. Ich sah mir unseren Hund an. Er hatte den Kopf gesenkt und seine rosa Zunge, auf der ein paar schwarze Flecken waren, hing ihm aus dem Maul. »Nein, ehrlich gesagt, das würde ich nicht machen«, widersprach die Ärztin. »Aber das müssen natürlich Sie entscheiden.« Sie klang sehr überzeugend, ohne dabei bevormundend zu sein, hatte eine warme Stimme, gut geeignet, einem große Entscheidungen ans Herz zu schmiegen. Mir war diese unantastbar kompetente Stimme ein wenig unheimlich, da ich fühlte, wie sie mich willenlos machte, mich vielleicht zu etwas verführen könnte, das ich absolut nicht wollte.
Auch meine Mutter war unschlüssig, brauchte noch einen kleinen Umweg, obwohl sie das Ziel des Vorschlages schon klar vor Augen hatte. »Wir könnten noch ein wenig warten. Vielleicht bessert sich ihr Zustand wieder. Aber so schwer Luft bekommen hat sie noch nie, oder?« Meine Mutter sah mich an. Ich hätte ihr gerne widersprochen, aber es stimmte, was sie sagte. Der Hund hechelte, ja röchelte ununterbrochen. Selbst im Schlaf klang es so, als wäre seine Gurgel zugeschwollen. Wenn er sich zum Kacken hinhockte, zitterten seine Beine, und die Zunge hing ihm luftschaufelnd aus dem Maul. Das alles war schleichend gekommen, und wir hatten den Verfall verpasst.
Meine Mutter und ich mussten uns nun rückwirkend, in nur ein paar Minuten, über dieses Versäumnis klar werden und eine schwere Entscheidung fällen. Ein mich kalt bestärkender Pragmatismus nahm Besitz von mir. Ich dachte: »Los, wir nehmen sie einfach wieder mit nach Hause. Sie hat ja keine Schmerzen. Hauptsache noch ein paar Tage«, hörte mich aber sagen:
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