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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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so an, als wolle sie mir mit der geballten Kraft ihrer aufgerissenen Augen über meine Denkblockade hinweghelfen. Aber ich wusste es nicht. Dieses Nichtwissen tat weh. In mir war eine schmerzende Leere, ein pochendes Vakuum. »Los, jetzt gib schon auf, bitte, bitte, bitte«, flehte mich mein ältester Bruder an. »Wir wollen noch ’ne Runde spielen, bevor Papa fünfzig wird.«
    Ich sagte sehr leise: »Spinne? Vogelspinne vielleicht?« Woraufhin mein einer Bruder den anderen fragte: »Sag mal, was bist du noch mal für ein Sternzeichen?«, und dieser »Das weißt du doch« antwortete, »ich bin Spinne«. Ich war kurz davor, »Hummer« zu sagen, brachte aber einfach nichts mehr heraus. Mehrmals gaben meine Brüder Tut-Signale von sich, um meine Ratezeit endgültig zu beenden.
    »Also gut!« Mein Vater sah mich unglücklich an, ich tat ihm leid. »Es ist ein Skorpion. Aber du bekommst einen Punkt, weil ich das mit dem Krebs gar nicht so schlecht fand. Die sehen sich ja wirklich ein wenig ähnlich.« Doch meine Brüder kannten in solchen Dingen keine Gnade. »Wie bitte?«, rief mein mittlerer Bruder entrüstet, »einen Punkt für Krebs? Was soll das denn? Krebs ist komplett falsch. Dafür gibt es ganz genau null Punkte.« Er warf mir diese gerufene Null voll an den Kopf. Auch mein ältester Bruder fand meine Bewertung ungerecht: »Papa, das ist wirklich Quatsch. Wenn diese Punkte irgendeinen Sinn machen sollen, dann darf er keinen bekommen. Das ist doch ein Wissensspiel und kein Ratespiel! Und wenn er einen Punkt bekäme, würde er ihm doch eh wegen Hilfestellung gleich wieder abgezogen, da Mama die ganze Zeit den Skorpion vorgespielt hat. Der hat doch keine Ahnung. Mich nervt das langsam. Letztes Mal hat er auf die Frage ›Was ist die Mehrzahl von Kaktus?‹ ›Kaktusse‹ geantwortet und auch einen Punkt bekommen.« »Hat er nicht sogar Kacki gesagt? Der hat doch Kacki gesagt«, korrigierte ihn mein mittlerer Bruder, »ein Kaktus, zwei Kacki.«
    Nun hatten sie mich gleich so weit. Da wo sie mich haben wollten. Meine Kopfhaut fing zu jucken an. Das war ein erstes Anzeichen des nahenden Kontrollverlustes, ein wegweisendes Symptom auf dem Weg in die Sackgasse Jähzorn.
    »Kommt, bitte hört auf! Nicht am Geburtstag. Wir wollen doch noch weiter spielen«, versuchte meine Mutter zu schlichten. Doch die Lunte brannte schon. Mein ältester Bruder erhob sich, als wolle er eine Rede halten, und verkündete: »Gegen Mittag erreichte die Karawane die Oase, die voller Kacki war!« Mein mittlerer Bruder sang: »Mein kleiner grüner Kacki steht draußen am Balkon!«, und dann beide zusammen, sich die Nasen zuhaltend: »Kacki, Kacki, Kacki!«
    Ich sprang vom Tisch auf, schlug meinem mittleren Bruder fahrig die Hand an den Hals, der weinend zusammenbrach, als hätte ihn ein Tomahawk getroffen, und warf mich auf den Küchenboden. Ich trat um mich und machte meinem Spitznamen »Die blonde Bombe« alle Ehre. Treten und Schlagen. Zappeln und Schreien.
    Und was tat mein Vater? Nichts! Er tat nichts. Mein Vater nahm sich noch eine große Portion Nierchen und Reis. Der Hund lag neben mir und hechelte. Mein älterer Bruder stand auf und stieg mit einem großen Schritt über mich hinweg, als wäre ich irgendein sabberndes Tier, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Meine Mutter versuchte mich vom Boden aufzuheben, aber ich hatte die Zorn-Zugbrücke hochgezogen: Ich strampelte, schrie und war uneinnehmbar – ich war in Sicherheit! Nach einiger Zeit gelang es meiner Mutter, mich zu besänftigen, mich in einer wohldosierten Mischung aus Festhalten und Umarmen zu beruhigen.
    Doch ich machte mich los, rannte in mein Zimmer und setzte mich auf die breite Steinplatte über der Heizung, direkt unter dem Fenster. Dort saß ich oft. Im Sommer war der Stein herrlich kühl, im Winter schön warm. Den Vorhang konnte ich ein wenig vorziehen und mich so, direkt aus dem Fenster sehend, in einer schmalen Höhle verbergen. Im Granit der Fensterbank waren Versteinerungen, leicht erhoben, Schneckengehäuse und längliche Muschelhülsen. Diese mit den Fingerkuppen zu betasten gefiel mir. Ich stellte mir vor, sie mit einem Hämmerchen und einem Schraubenzieher herauszuklopfen und teuer zu verkaufen oder sie in einem Mörser zu zerstoßen. Dieses fossile Zauberpulver, hoffte ich, würde mich unbesiegbar machen.

Das Kaffeekränzchen
    Zum Geburtstagskaffeekränzchen kamen, das hatte schon Tradition, vier Patienten der Psychiatrie zu uns nach Hause. Es waren

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