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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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immer dieselben, die einzigen Personen, die mein Vater als Gratulanten zuließ. Immer wieder hatte meine Mutter versucht, ihn davon zu überzeugen, auch mal jemand anderen ein- oder wenigstens dazu zu laden. »Ich freu mich ja auch, wenn die kommen, Hermann, aber so ein richtiges Abendessen mit Gästen, ach, das fände ich auch mal nett!« Mein Vater wollte davon nichts wissen. »Nee, wer denn?« »Jacobs, Henkels, die Eckmanns, es gibt so viele!« Bei jedem dieser Namen wurde mein Vater missmutiger. Jeder dieser Namen schien mit einer ganz speziellen unangenehmen Vorstellung verknüpft zu sein und zu akutem Unwohlsein zu führen. »Nee!« »Wir wohnen jetzt schon so lange hier und haben noch nie Gäste gehabt. Das ist schon etwas seltsam. Das musst du zugeben. Selbst die stellvertretende Direktorin hat es noch nie bis in unser Wohnzimmer geschafft.« »Gott sei Dank«, murmelte mein Vater und blätterte betont laut um, so als könne er die Namen mit der Buchseite aus seinen Gedanken wegwischen. Es blieb dabei.
    Zu Kaffee und Kuchen waren für drei Uhr geladen: Margret, Ludwig, Dietmar und Kimberly.
    Margret trug seit Jahren, sommers wie winters, die gleiche blümchenblau gemusterte Kittelschürze und klobige Sandalen. Ihre ockerfarbenen Strumpfhosen zogen meinen Blick magisch an. Entlang der Schienbeine und über den Waden schien der stramm gespannte Stoff ungewöhnliche Unebenheiten zu verbergen. Wie über borkige Rinde war das Nylon gezogen, und ich stellte mir jahrelang die Frage, wie Margrets Beine wohl nackt aussähen. Brauchte sie die strapazierfähige Strumpfhose, um geschwollene Adern zusammenzuhalten und deren Platzen zu verhindern, oder hatte sie eine die Haut verkrumpelnde Krankheit? Sie war vollkommen alterslos, irgendwo zwischen zwanzig und sechzig, immer bestens gelaunt und sehr laut. Alles gefiel ihr über die Maßen. Ihr Enthusiasmus entzündete sich an nichts Bestimmtem, war immer schon vorher da und bereit, sich auf alles zu stürzen, was ihr vor die winzigen, flinken Augen kam.
    Sie sprach eigenartig. So, als wäre jeder Satz ein Wort: Ohhsiehtderkuchenleckerausichglaubichwerdnichtmehr. Wasfürhübschetellerhier. Dietischdeckedieistjawunderschön. Dasgibtsjanichtkakaoichglaubichwerdnichtmehr. Das war ihr Lieblingsausruf: Ichglaubichwerdnichtmehr! Selten beendete sie einen Satz ohne ihn. »Bistdugewachsenichglaubichwerdnichtmehr«, rief sie jedes Mal, wenn sie mich sah.
    Ludwig dagegen war still. Eine schweigsame, hohlwangige Bohnenstange mit Fingern wie Fühler. Er war nicht viel älter als ich, aber größer als meine Mutter. Ständig leckte er sich mit seiner Zunge über die Lippen, züngelte in seinen Mundwinkeln herum und bleckte, wenn ihn etwas erregte, die Zähne. Dadurch spannten sich die Sehnen an seinem Hals. Das sei ein uralter atavistischer Reflex, um Fliegen zu verscheuchen, hatte mir mein mittlerer Besserwisserbruder erklärt. Ludwig trug ausnahmslos Latzhosen und hakte, wenn er nicht gerade tastend seine blassen Nosferatu-Finger über den Tisch krabbeln ließ, seine Daumen unter die Verschlüsse der Träger. Er hatte Todesangst vor unserem Hund, wünschte sich aber nichts sehnlicher, als ihn zu streicheln. Er schnaubte, rang seine Furcht nieder und bat, die einzelnen Worte in einer Dreiersalve abfeuernd, »Streicheln! Streicheln! Streicheln!«. Immer wieder fragten wir ihn: »Bist du sicher?« Er nickte, wippte und bleckte die Zähne. »Sicher, sicher, sicher! Ludwig will!« Doch sobald der schwanzwedelnde Hund von meinem ältesten Bruder ins Wohnzimmer geführt wurde, presste der dürre Ludwig die geballten Fäuste an die Schläfen, brüllte los und stürzte, ein hysterisches Strichmännchen, aus dem Zimmer. So ging das jedes Jahr, flehentliches Betteln und Bitten gefolgt von unentrinnbarer Angst und Flucht. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich sah es gerne, wenn Ludwig Panik bekam. Mich beschäftigte die Frage, wie es sein konnte, dass genau das, wonach man sich am meisten auf der Welt sehnt, das ist, was einem die grauenhafteste Angst einflößt.
    Dietmar war einer der Lieblingspatienten meines Vaters, etwa so alt wie mein mittlerer Bruder und, auch das eine Ähnlichkeit, von unstillbarem Wissensdurst getrieben. Er umarmte einen bei jeder Gelegenheit. Er fragte und fragte, wippte dabei vor und zurück, hielt den Kopf etwas schräg, sprang von Thema zu Thema. Vor allem wollte er wissen, wer etwas wann erfunden hatte. Mein Vater war fasziniert von seinen hakenschlagenden

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