Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
Gedankensprüngen und widmete sich ihm mit Hingabe. »Möchtest du ein Stück, Dietmar?« »Was ist das für ein Kuchen, Professor? Wo kommt der her?« »Bienenstich.« »Wer hat den Bienenstich erfunden, Professor?« »Das weiß ich nicht. Meine Frau hat ihn gebacken.« »Deine Frau? Was hast du ihr bezahlt?« »Nichts.« »Essen Bienen Honig, Professor?« »Nein, Bienen sammeln Honig.« »Stechen Bienen Kuchen?« »Nein, aber sie mögen ihn.« »Stechen Bienen Frauen?« »Klar, das kommt vor.« »Mögen Bienen Bienenstich, Professor?« »Ja«, meinem Vater gefiel so etwas, »das glaub ich schon.« »Ich sammle auch was!« »Was denn, Dietmar?« »Aufklebers, ne?« »Die würde ich gerne mal sehen.« »Kannst mir welche abkaufen, Professor. Wer hat Aufklebers erfunden?« »Weiß ich nicht Dietmar. Tut mir leid!«
Er wippte schneller, stand plötzlich auf und umarmte meinen Vater innig, drückte sein Gesicht an seinen Hals, legte ihm eine Hand auf die Glatze und ließ ihn nicht mehr los. Auch mein Vater legte seine Arme um ihn, und sie wiegten sich ein wenig.
Man durfte ihn unter keinen Umständen alleine auf das Klo gehen lassen, da er gerne seine Fäkalien an die Wände schmierte. Nachdem dies einmal geschehen war, musste unser Bad nicht geputzt, sondern komplett renoviert werden.
Kimberly war das hässlichste Mädchen, das ich kannte. Ihr Kopf war deformiert. Wie eine Seifenblase im Wind hatte ihr Schädel Dellen und Ausbuchtungen, die sich zu verändern schienen. Immer wenn ich ihr begegnete, kam es mir so vor, als hätte sich ihr Gesicht weiter verformt. Ihre Haare sahen aus wie eine schlecht sitzende, nach hinten verrutschte, struppige Mütze, und auf ihrer welligen Stirn gab es eine feuerrote verkrustete Beule, ein mit Schorf und einzelnen Haaren überzogener Knubbel. An ihren Schläfen schien die Haut dünn wie Pergament zu sein. Wenn ich sie sah, musste ich mir zwanghaft vorstellen, wie es wäre, meinen Zeigefinger durch diese Membrane hindurch in ihren Kopf zu stoßen, so wie ich das gerne durch die goldene Folie bei noch unangebrochenen Nutella-Gläsern tat. Ihre Augen waren trüb und leicht verdreht.
Das ganze Mädchen hatte etwas Waberndes und sah aus, als würde es sich jeden Augenblick verflüssigen. Mein mittlerer Bruder hatte meinem Vater angekündigt, dass er dieses Jahr nicht wieder neben ihr sitzen wolle. »Warum denn nicht?« »Die sieht so komisch aus!« »Das finde ich nicht«, hatte mein Vater geantwortet, »schau sie dir mal genau an. Dann kannst du sehen, was für ein hübsches Mädchen Kimberly ist.« Mein Bruder sah ihn ungläubig an.
Wir alle kannten diesen Hinweis meines Vaters. Immer und immer wieder wies er uns auf eine in den Gesichtern der Patienten wie im Verborgenen liegende Schönheit hin. »Es braucht so wenig«, beharrte er oft, »damit ein Gesicht aus den Fugen gerät.« Er demonstrierte es, indem er sich selbst ein wenig die Nase hochdrückte oder sich, die Lider mit den Zeigefingern herabziehend, Bluthund-Augen machte. Es reichte sogar, nur ganz leicht zu schielen, den Kopf einen Hauch schräg zu stellen, und schon sah mein Vater irre aus. Das machte ihm Spaß, aber er meinte es ernst. Eindringlich sprach er darüber, wie verwundert er oft sei, wenn er die Patienten nachts in ihren Betten sehe: »Da denke ich, ich kenne ein Mädchen seit Jahren, und plötzlich sehe ich sie schlafen. Entspannt, ruhig atmend, mit einem völlig anderen Gesicht. Und dieses arme Mädchen, dass den ganzen Tag Fratzen schneiden muss und sich die Hand an den Kopf schlägt, das liegt dann da und ist wunderschön.«
Um Punkt drei klingelte es, der Hund wurde weggesperrt und die Haustür geöffnet. Dort standen die vier, in sommerlicher Kleidung, von einem Pfleger eskortiert. »Ich komm dann um fünf wieder, Herr Professor. Alles Gute zum Geburtstag.« »Vielen Dank, bis nachher.«
Margret sah mich an: »Bistdugewachsenichglaubichwerdnichtmehr!« Dietmar umarmte uns alle mehrmals lange, hob mich sogar ein wenig vom Boden hoch. Seine Umarmungen waren nie flüchtig oder verhuscht. Wenn einen Dietmar umarmt hatte, dann spürte man das noch eine ganze Weile, so intensiv drückte er einen an sich. Es war mehr als eine Umarmung, es war ein In-den-Arm-Nehmen, Festhalten und Wieder-Loslassen. Besonders lange umarmte er meine Mutter, klopfte ihr mit seinen kleinen prallen Händen auf den Rücken, sogar auf den Po, und meine Mutter sagte mahnend: »Dietmar!« Mir kam es immer so vor, als ob er es genoss,
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