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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Ludwig wie am Schnürchen gezogen auf den Hund zu, stellte sich haargenau wie auf der Fotomontage neben ihn und streichelte seiner haarigen, sabbernden Urangst den Kopf.
    Nach dem Kaffeekränzchen wurde für meinen Vater gesungen. Meine Mutter versuchte uns alle, die Patienten und ihre Söhne, unter die Fittiche ihres hellen Soprans zu nehmen und melodisch zu stützen. Umsonst. Eine ungebremste Lust am Singen zerschmetterte die Melodie. Nur die Stimme meines mittleren Bruders schwebte hell und rein, ganz für sich, hob ab, verselbstständigte sich und hing als goldene Klangwolke über uns unter der Wohnzimmerdecke. Mein Vater saß in seinem Ohrensessel und genoss sichtlich das mehr gegrölte als gesungene Geburtstagsständchen.
    Dann gingen wir alle zusammen in den Garten. Die Sonne war so grell, dass man den Federball nicht sehen konnte, seine Flugbahn am Zenit im Gleißen ausgelöscht wurde. Ich spielte mit Dietmar. Nach jedem Punkt umarmten wir uns. Wenn ich den Punkt machte, kam er zum Gratulieren, wenn er den Punkt machte, um mich zu trösten. »Wer hat den Federball erfunden?« »Keine Ahnung, Dietmar, keine Ahnung.« »Warum heißt das Ball? Das ist doch kein Ball?« »Los, spiel!« »Hat ein Ball Federn? Ein Ball ist doch rund.« »Ja, Dietmar, jaha.«
    Kimberly hatte ihre Hose ausgezogen, sich im Schatten der hohen Linden in die Wiese gelegt. Meine Mutter kam mehrmals zu ihr und erklärte: »Wirklich, Kimberly, du darfst keine Gänseblümchen essen. Die sind nicht gesund. Ja, hast du das verstanden?« Besorgt sah ich, wie dichte schwarze Löckchen links und rechts unter ihrer Unterhose hervorwucherten. Sie hatte ihren Pullover etwas hochgerollt, döste und streichelte ihren Bauch. Margret kniete in unserem Rosenbeet und zupfte Unkraut: »Nahiersiehtsausichglaubichwerdnichtmehr. Dasmussallesrausichmachdasschon.« Mein Vater nahm Ludwig an der Hand und gemeinsam spazierten sie durch den Garten. Meine Brüder hatten es sich auf Liegen bequem gemacht, flüsterten miteinander, sicher planten sie etwas, und tranken aus bauchigen Gläsern einen ihrer Spezialcocktails. Ohne Alkohol, aber die einzelnen Zutaten so geschickt eingefüllt, dass sie sich wie durch Zauberhand im Glas nicht vermischten und rot, gelb und grün übereinanderlagen: gestapelter Saft.
    Oft wusste ich nicht, ob meine Brüder etwas ernst meinten, ob sie tatsächlich glaubten, was sie sagten, oder es einfach nur genossen zu sehen, wie ich an ihren Lippen hing und alles für bare Münze nahm, was sie mir auftischten. Oft spielte ich aber auch mit und tat so, als würde ich etwas nicht kapieren, da ich glücklich war, wenn sie Zeit mit mir verbrachten.
    Nach der Amsel-Beerdigung baten sie mich in das Zimmer meines ältesten Bruders. Allein das war schon eine Ehre für mich, dass ich in dieses Zimmer geladen wurde. Seine Tür war tapeziert mit Aufklebern und ausgeschnittenen Anzeigen. Auf meiner Augenhöhe prangte eine Fleischwarenwerbung mit Rechtschreibfehler: Kinderbraten: Kilo acht Mark.
    Mein ältester Bruder mochte es gern schummerig. Seine Vorhänge blieben oft den ganzen Tag lang geschlossen. Die Sonne blendete ihn, das ständige Grau und der Regen bedrückten ihn. Da der Vorhangstoff schwer und grün war, herrschte in diesem Raum meistens ein dickflüssig-algiges Unterwasserlicht. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch die drei blubbernden Hundert-Liter-Aquarien mit ihren wabernden Wasserpflanzen. Betrat ich sein Zimmer, lag er so gut wie immer auf seinem Bett. Auch seine dunklen Haare waren eine schwere Gardine und hingen ihm weit über die braunen Augen. Ein über Jahre sich hinziehendes Dauerthema zwischen ihm und meinen Eltern war das Lüften. »Wie hältst du das nur aus?«, fragte ihn meine Mutter, »du erstickst ja. Hier drin stinkt es wie in einem Karnickelstall!« Doch so wie die Fische das Wasser um sich brauchten, so brauchte mein Bruder stickige, stehende Luft um sich. Das alles machte einen Besuch bei ihm zu einem Tauchgang in seine, eine andere Welt. Manchmal war es so dunkelgrün in seinem Zimmer, die Aquarienlampen die einzigen Lichtquellen, dass ich gar nicht genau sehen konnte, wo er lag, wo die Aquariumscheiben das grüne Wasser von der grünen Luft trennten. Da sah es dann so aus, als würden die Guppys, Neonfische und Buntbarsche frei im Zimmer herumschwimmen und das Bett meines Bruders tief unten auf dem Grund eines Teiches stehen. In diesen vier Wänden herrschte ein eigenes, träg blubberndes Tempo. Mehrere

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