Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
hineinführen sollte, wenn er es unbedingt wollen würde, und sagte: »Vielleicht schafft er es ja dieses Jahr. Gehört doch irgendwie dazu.« Mein mittlerer Bruder war derselben Meinung: »Ich finde auch, dass er ein Anrecht darauf hat, es jedes Jahr wieder zu versuchen. Das hat doch schon Tradition.« Er sah mich an und nickte kurz, so als wolle er sagen: Gleich geht das Spektakel wieder los. Ludwig weinte herzerweichend. Klammerte sich an seine Latzhosen-Träger. Alle Muskeln maximal kontrahiert. Wippte er von alleine oder zog er sich selbst an seinen Trägern vor und zurück? »Bitte, bitte, bitte. Streicheln. Ludwig mutig! Ludwig mutig! Ludwig mutig!« »Ludwigmutigichglaubichwerdnichtmehr.« »Professor, wer hat die Latzhose erfunden?« »Keine Ahnung, Dietmar. Doch, warte mal. Das weiß ich ja. Das hab ich gelesen: Levi Strauss. 1873!« Dietmar sprang auf, stolperte über die Kuchen mampfende Kimberly und fiel meinem Vater um den Hals. Ludwig war nicht zu beruhigen. Er wollte den Hund sehen. Selbst eine extra Portion Schlagsahne konnte ihn nicht von seiner Streichel-Obsession abbringen.
»Also gut, dann versuchen wir es halt! Hol du den Hund rein!« Mein ältester Bruder stand auf und verschwand in der Tür. Meine Mutter suchte nach einer Zwischenlösung. »Vielleicht ist es ja auch schön, Ludwig, wenn du ihm winkst. Das wäre doch toll. Wink ihm doch.« »Das ist doch Quatsch, Mama! Hunde streichelt man, denen winkt man nicht!«, wies mein mittlerer Bruder sie zurecht. Mein anderer Bruder rief von draußen: »Ich komm jetzt um die Ecke!« und erschien im Türrahmen. Ludwig fing an zu schnaufen. Dietmar rannte zum wedelnden Hund, umarmte ihn und ließ sich das Gesicht lecken. Das fand ich ungerecht, denn das hatte man mir verboten. Auch ich, der ich unseren Hund über alles liebte, hätte mich gerne von ihm abschlecken lassen. Ludwig stand auf und reckte seinen Hals. Irgendetwas knirschte in seinem Genick. »Alles klar, Ludwig?« Es war unmöglich zu entscheiden, ob sein verzerrter Mund ein lachender oder verzweifelter war. »Willst du näher rangehen?«, fragte meine Mutter und hakte sich bei ihm ein. Mein mittlerer Bruder hatte seinen wissenschaftlichen Blick bekommen. So einen lustvollen, überheblichen Röntgenblick, der so tat, als würde er den Dingen auf den Grund sehen. Margret schrie begeistert: »Wennderhundnochnäherkommtdannfängteranzuschreien!« Dietmar war vom Sich-lecken-Lassen zum Selberlecken übergegangen. Das überstieg sogar meine Sehnsüchte. Er schleckte dem Hund über die schwarze Nase, und ihre Zungen verschlangen sich schmatzend ineinander. Dann ließ er sich auf den Rücken fallen und klammerte sich an den Hundebauch. Die Gutmütigkeit unseres Hundes war grenzenlos. Er war einiges von meinen Brüdern und mir gewohnt. Wir zogen ihm Schlafanzüge an und stellten seine Schlappohren mit Gummibändern auf.
Während dieser ganzen Aufregung hatte sich Kimberly die Kuchenreste von Ludwig und Dietmar auf ihren Teller hinübergezogen. Sie aß jetzt mit zwei Gabeln. Als sie eine davon in das halbe Stück von Margret rammte, brüllte diese: »Dieblödesauichglaubichwerdnichtmehrwillmirmeinenkuchenklauen!«
Mein Vater rief: »Kommt, jetzt beruhigt euch mal alle. Wolltet ihr nicht noch für mich singen?« Ludwig machte ein paar Schritte auf meinen Bruder und den Hund zu. Seine knochigen Finger zuckten. Es sah aus, als würde er die Luft durchkitzeln, virtuos eine unsichtbare Harfe zupfen. Unser Hund sah diesen Jungen auf sich zukommen, diese fuchtelnde und zehn Gesichter pro Sekunde schneidende, dürre Gestalt – und bellte. Ein einziges Mal: Wufffff. Ein schöner, aus dem enormen Resonanzkörper des Hundebrustkorbs herausschallender Beller. Ludwig stieß frontal gegen dieses sonore Wufffff, drehte sich um und stürzte, sich die Fäuste gegen den Schädel hämmernd, schreiend aus dem Zimmer. Ich senkte meinen Blick, verbarg meine grinsenden Mundwinkel und schüttelte betroffen den Kopf. Also auch dieses Jahr trotz runden Geburtstages wieder nichts.
Ein paar Jahre später sollte es dann doch noch gelingen: mit einem Trick. Mein Vater hatte ein Foto von Ludwig gemacht, ihn mit der Nagelschere fein säuberlich ausgeschnitten und auf eine andere Fotografie direkt neben unseren Hund geklebt. Dieses Bild schenkte er ihm, und Ludwig hielt es von nun an ununterbrochen zwischen seinen feinknochigen Fingern, bis es weich wie ein Stück Stoff war. Es funktionierte. Bei seinem nächsten Besuch ging
Weitere Kostenlose Bücher