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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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steckenden Augen kamen mir vor wie zwei finstere Löcher, Höhleneingänge, in die ich zwar hineinzusehen versuchte, aber nie sicher war, ob auch jemand aus ihnen hinausblickte. Eigentlich wurden die Patienten, wenn es nötig war, rasiert, aber der Glöckner hatte aus mir unbekannten Gründen das Recht auf einen üppigen Vollbart. Und auch dieser: schwarz wie der Dreck unter seinen langen Fingernägeln.
    Er trug, außer wenn es wirklich heiß wurde, einen versifften Bundeswehrparka, eine Bundeswehrhose und klobige Stiefel. Das einzig Weiße an ihm waren seine mit Schuppen beschneiten Schultern. Er knirschte mit den Zähnen, das machte mir am meisten Sorgen. Dieses malmende Geräusch konnte man schon mehrere Meter entfernt von ihm deutlich hören. Als würde in seinem Kopf ein Werkzeug schaben, furchtbar arbeiten und etwas sehr Hartes, Steinernes aus ihm herausgekratzt oder in ihm zerkleinert werden.
    Er hatte einst, da kannte ich ihn noch gar nicht, ein kleines Glöckchen geschenkt bekommen. Mit diesem Glöckchen bimmelte er sich ins Ohr. Doch das reichte ihm schon bald nicht mehr. Der Glöckner, so hat es mir mein Vater erzählt, hatte im sogenannten Trupp gearbeitet. Der Trupp war eine Gruppe von etwa zwanzig Patienten, die auf dem Anstaltsgelände Rasen mähten und Laub harkten. Er hatte seinen Lohn gespart und davon zwei richtige Glocken, Tischglocken, gekauft. Doch auch die wurden ihm bald zu klein und irgendwann war er dann im Besitz zweier schwerer, goldener Glocken mit massiven Griffen. Nun wusste man immer, wo er war. Er weigerte sich zu arbeiten und war den ganzen Tag auf dem Psychiatriegelände unterwegs. Mit einer sehr ausgefeilten Technik läutete er sich seine Glocken um die Ohren.
    Erste Anwohner hatten schon Beschwerde eingelegt, da das Dauerläuten in den direkt an der Anstaltsmauer gelegenen Häusern kaum noch ruhige Stunden zuließ.
    Wenn der Glöckner auf einem der vielen verschlungenen Wege seine Bahnen zog, sprangen die anderen Patienten beiseite, und auch Pfleger, Ärzte und Besucher traten wie automatisch an den Rand. Sogar der Essenswagen wich aus und ließ ihm, mittig auf der Straße gehend, den Vortritt. Man hörte ihn lange, bevor man ihn von Weitem kommen sah, eine goldene Glocken schwingende, finstere Gestalt. In kraftvollen Ellipsen wuchtete er die Glocken mit seinen vom ununterbrochenen Heben und Schwenken muskulösen Armen um sich herum. Ein mit Riesenschritten stapfender Kerl in einem Gehäuse aus Bewegung und Klang. Einmal im Monat durfte er in Begleitung von drei Pflegern die Anstalt verlassen und den Schleswiger Dom besuchen, um in den Glockenturm hinaufzusteigen. Dort oben, im brüllenden Geläut, war er glücklich.
    Als ich eines Mittags auf dem Weg von der Schule nach Hause unterwegs war, fing es plötzlich, direkt hinter mir, zu läuten an. Wenn mein Vater mich begleitete, nahm ich ihn bei der Hand und ließ den Glöckner an uns vorbeiziehen. War ich allein unterwegs, vermied ich eine Begegnung mit ihm und lief, sobald ich das Läuten hörte, oft ohne ihn überhaupt gesehen zu haben, in die entgegengesetzte Richtung davon.
    Doch an diesem Tag tauchte er ganz plötzlich auf und kam auf mich zu. Ich verließ den Weg, streifte meinen Schulranzen ab und lehnte mich in der Hoffnung, dass er mich nicht gesehen hatte, an einen der raurindigen Alleebäume. Das Läuten kam näher und näher. Ich überlegte, einfach davonzurennen, aber mein mittlerer Bruder hatte mir einmal gesagt, dass man den Patienten niemals zeigen dürfe, dass man sich vor ihnen fürchte. Eine offen erkennbare Furcht könne sie bis aufs Blut reizen, denn dadurch würde man ihnen zeigen, dass etwas mit ihnen nicht stimme. Ich verharrte hinter dem Baum und schob mich, als der Glöckner auf meiner Höhe war, langsam um den Stamm herum und aus seinem Blickfeld heraus.
    Er zog an mir vorbei, und ich beugte mich ein wenig vor und sah ihm nach. Da blieb er plötzlich stehen. So überraschend, als hätte jemand dieser wild arbeitenden und tönenden Glocken-Apparatur den Stecker herausgezogen. Stille. Eine Glocke hoch erhoben, die andere seitlich vom Kopf, stand er wie angewurzelt da. Eine mächtige Statue in Bundeswehr-Klamotten. Ein Glöckner-Standbild. Blitzschnell zog ich meinen Kopf zurück und presste mich an den Baum. Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich eine solche Angst gehabt. Ich sah die Allee hinunter. Ganz an ihrem Ende wandelten drei Ärzte. Ihre Kittel wehten wie Segelchen im Wind. In diesem Augenblick

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