Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
war ich mir sicher, dass er sich umgedreht hatte, auf mich zukommen würde, mich hörte und roch. Ich beugte mich hinunter und griff nach meinem Schulranzen. Der Riemen glitt durch meine Finger, und beim Hochheben fielen mehrere Stifte ins Gras. Da hörte ich ein Geräusch. Zähneknirschen. Ganz nah. Wie von einem Katapult abgefeuert rannte ich, ohne mich umzudrehen, los, spurtete auf die wehenden Kittel zu. Doch während ich rannte, mischte sich in meine Angst schon die Scham, vielleicht überreagiert zu haben und bei den Ärzten auf freundliches Unverständnis zu stoßen. Sie kamen näher, sahen mir bereits entgegen, und ich rannte an ihnen vorbei, um die nächste Ecke, hinter einen der Bungalows, die aus Platzmangel überall auf dem Gelände aufgestellt worden waren.
Ich setzte mich und versuchte Luft zu holen. Wie lange war es her, dass ich das letzte Mal geatmet hatte? Ich holte Luft, aber nichts passierte. Ich röchelte. Konnte man das denn einfach vergessen? Wie ging denn das noch? Mund auf und Luft einziehen. Ich sog und sog. Und wieder, trotz meiner Not, Bilder im Kopf, die nichts mit der Situation zu tun hatten. Oder doch? Mich ärgerte das. Warum kam mir so ein Quatsch in den Sinn, obwohl ich zu ersticken drohte. Ich sah meinen mittleren Bruder, der eine Apparatur entworfen hatte, um einen Negerkuss wachsen zu lassen. Unter einer umgedrehten, durchsichtigen und luftdicht abgeschlossenen Plastikschüssel stand der Negerkuss. Durch einen Aquariumschlauch saugte mein Bruder die Luft ab. Und tatsächlich, er wurde größer und größer. Die Schokoladenhülle platzte auf und er dehnte sich immer weiter aus. Mein Bruder wurde knallrot im Gesicht, und der Negerkuss quoll bis an die Decke der Schüssel empor.
War das mein Schicksal? Saß ich unter einer gigantischen Vakuumglocke? Lutschte mir irgendein Gott das Hirn raus? Würde meine Schädeldecke aufplatzen und der Inhalt wie schaumige Zuckermasse herausquellen? Ich schnappte nach Luft. Der Wind wehte direkt vor mir in ein mickriges Stückchen Wiese hinein. Die Halme bogen sich so sanft wie die Härchen auf meinem Arm. Mir fielen die Augen zu. Aber durch die geschlossenen Lider hindurch leuchtete es gelb-orange. Wie angenehm. Da war es wieder. Gelb-orange.
Da schnalzte es in meinem Hals, ein Sektkorken-Plopp, und die Luft zischte frisch in meine Lungen. Mein ganzer Körper schmerzte und pitzelte, so als hätte ich mich nackt in einem Brennnesselfeld gewälzt. Erschöpft blieb ich an der Pavillonmauer sitzen und atmete tief ein und aus. Mir kam das wie ein Wunder vor, um mich herum alles voller Luft. Den ganzen Weg nach Hause – in einem entlegenen Teil des Geländes hörte ich leises Läuten – atmete ich tief ein und aus und ein und aus. Wie herrlich das war. Obwohl mir eigenartigerweise der Moment des Luftmangels auch gefallen hatte. Die mich bestürmenden Bilder. Ich hatte nicht an etwas Bestimmtes denken wollen, sondern all das, was ich mir vorgestellt hatte, war ganz von allein, prächtig und deutlich, in meinen leer gefegten Kopf gekommen. Vom Glöckner erzählte ich meinen Brüdern nichts, und auch, dass ich plötzlich keine Luft mehr bekommen hatte, behielt ich für mich.
Eine Woche später ging ich Minigolf spielen. Die Psychiatrie hatte eine eigene, etwas holperige Anlage mit achtzehn Bahnen. Den Schläger und die Bälle – es gab drei verschieden harte – bekam ich in der Station N-Unten. Ich klingelte und rief auf ein »Ja, bitte?« »Ich würde gerne Minigolf spielen« in die Gegensprechanlage. Die Tür surrte auf, und ich trat in den stets sauber duftenden Linoleumgang. Ich spazierte vorbei an mehreren Glastüren, die alle wild mit Fingerfarbe beschmiert waren, bis zu einem mit Pflanzen vollgestellten Aufenthaltsraum. In einer Ecke dieses Dschungelzimmers war ein Schreibtisch, in dessen Schublade der Schlüssel für den Schrank mit der Minigolfausrüstung lag. Ein Pfleger kam, händigte mir alles aus, und ich musste unterschreiben. Nach dieser an mich gerichteten Aufforderung: »Hier, eine Unterschrift bitte noch« war ich verrückt. Nirgendwo sonst musste oder durfte ich das. Jedes Mal, bevor ich dort hinging, übte ich zu Hause meine Unterschrift. Ich hatte große Sorge, dass sie sich nicht ähnlich genug sehen würde, dass der Pfleger meine zuletzt geleisteten Unterschriften mit der neuesten vergleichen und zu dem Schluss kommen würde, dass ich unmöglich ein und dieselbe Person sein könne. Er würde mich, da war ich mir sicher,
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