Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
galoppierte er über die Wiese davon.
Schon am nächsten Tag traf ich ihn wieder. Ich hatte gerade Tor 1 durchschritten und auf die Frage des Kontrolleurs »Na, Kleiner, wieder ordentlich Ficki, Ficki gemacht?« errötend »Heute nicht« gemurmelt, als ich nahes Läuten hörte. Mein erster Impuls war wie eh und je, so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Aber ich blieb stehen, sah den Glöckner kommen und hatte zu meiner eigenen Überraschung keinerlei Angst mehr vor ihm. Wie herrlich laut und satt diese Glocken läuteten! Das kitzelte in den Ohren und brachte die Trommelfelle zum Beben. Er kam näher. Seine Augen, zwei feuchte, schwarz glänzende, im Kopf versenkte Kugeln. Keinerlei Weiß. Er blieb vor mir stehen, stellte die Glocken auf den Asphalt, kam noch einen Schritt näher. Ich roch ihn, roch den Bundeswehrparka und die Ausdünstungen seiner zotteligen Haarpracht, seines Bartes. Was war das für ein absonderliches Gemisch? Schweiß, Sekrete, von Drüsen herausgepresste Substanzen? Ich war mir nicht sicher, ob er bestialisch stank oder intensiv duftete. Seine Zähne malmten, aber es klang irgendwie freundlich, auffordernd.
So, als wäre es das Normalste von der Welt, packte er mich am Handgelenk und wuchtete mich auf seine Schultern. Schwang mich in die Höhe wie eine seiner Glocken. Was für eine Aussicht! Da ich zu schwer geworden war, hatte ich die Schultern meines Vaters schon vor Jahren als Transportmittel aufgeben müssen. Doch für die Kraft des Glöckners war mein Gewicht ein Witz. Er rannte los – ekstatisch läutend und so schnell, dass ich mich mit beiden Händen in seinen tiefschwarzen Haaren festkrallte. Dabei musste ich mich ganz klein machen, mich mit dem Druck meiner Oberschenkel an ihm festklemmen, um nicht von den um mich herumsausenden goldenen Glocken nieder- oder heruntergeschmettert zu werden.
Auf der langen Geraden warteten wir auf den Essenswagen, der übel riechende Metalltröge zu den Stationen brachte. Wir ließen dem Wagen einen kleinen Vorsprung und dann galoppierte der Glöckner los, rannte so schnell er konnte, bis wir den Wagen überholt hatten.
Da die Seitenwände des Essenswagens ganz aus Edelstahl gefertigt waren, sah ich mich, als wir an ihm vorbeipreschten, gespiegelt auf seinen Schultern sitzen, sah einen blondgelockten Reiter auf einem schwarzzotteligen Riesen.
Die Fahrer winkten uns zu. Der Glöckner grunzte glücklich, und gemeinsam verließen wir die Straße, brachen durchs Unterholz, und ich trabte mit ihm noch eine Runde durch den Psychiatriepark.
Fast täglich durfte ich von nun an auf ihm reiten. Er wurde mein menschlicher Thron. Meine Finger rochen nach ihm – selbst noch im Bett, nach dem abendlichen Händewaschen. Auch war nach diesen Ausritten die Haut meiner Hände eigenartig weich, glatt und geschmeidig, wie durch eine teure Essenz gepflegt.
Er liebte alles Süße. Nach Schokolade war er süchtig. Wenn ich ihm eine Tafel mitbrachte, wurde er ganz unruhig, und seine von Haaren zugewucherten Nasenlöcher blähten sich wie Nüstern. Mit seinen spitz zugeknabberten Fingernägeln schlitzte er das Schokoladenpapier auf. Behutsam brach er alle Stücke auseinander und legte sie vor sich hin, wo auch immer man sich befand. Auf ein Mäuerchen, eine Bank oder eine Treppenstufe. Stets reihte er, bevor er zu essen begann, diesen Schokoladenzug auf. Ich fragte: »Wollen wir los?« – keine Regung. Andächtig zerkaute er Stückchen für Stückchen. Hundertprozentige Hingabe.
Er galt als vollkommen harmlos, ja liebenswert. Mein Vater beschrieb ihn als einen der gutherzigsten Patienten der ganzen Anstalt: »Er ist wirklich das genaue Gegenteil von dem, was sein Aussehen vermuten lässt.« Wenn wir am Mittagstisch über ihn sprachen, machten meine Brüder seltsame Andeutungen, die ich nicht verstand. So als hätte mein Vater ihnen etwas erzählt, eines seiner Geheimnisse, für die ich noch zu jung war. Mein mittlerer Bruder sagte: »Was schätzt ihr, was ist der Durchmesser von diesem Teller? So fünfundzwanzig Zentimeter?« Mit beiden Händen maß er in der Luft die Größe ab. Mein ältester Bruder sagte: »Ich hab neulich einen Aal gefangen. Der war nur fünfundzwanzig Zentimeter lang. Dafür, dass er so kurz war, war er ganz schön dick.« Meine Mutter sagte: »Kommt, ist mal gut jetzt.« »Also ich finde fünfundzwanzig Zentimeter viel!«, mein mittlerer Bruder betonte das »Fünf-und-zwanzig« Silbe für Silbe: »Das ist doch voll der Oschi!« Mein Vater
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