Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
Vom Netzwerk:
Pförtner hatte mir mein Vater etwas erzählt, das mich schwer beschäftigte. Erst nachdem ich ihm mehrmals versprochen hatte, niemandem ein Sterbenswörtchen zu verraten, auch meinen Brüdern nicht, hatte er mir anvertraut: »Stell dir vor, der hat seiner Frau die Brustwarze abgebissen. Aber das bleibt unser Geheimnis, versprochen?« Immer und immer wieder sah ich das vor mir, prüfte ich die Bisskraft meiner Schneidezähne und wunderte mich über meinen Vater. »Warum erzählt der mir so etwas?«, dachte ich, »ich bin doch ein Kind.« Das war mir vollkommen klar, dass ein Vater seinem Sohn nicht erzählen sollte, dass irgendein Kerl seiner Frau die Brustwarze abgebissen hatte.
    Da fuhr einer der kleinen Traktoren vor, die ständig auf dem Psychiatriegelände herumkurvten, im Herbst die Gartenbänke abtransportierten, Salz streuten im Winter oder die Torwand zum Sommerfest brachten. Genau an der Stelle, wo wir seit mittlerweile über vierzig Minuten die Limousine des Ministerpräsidenten erwarteten, hielt nun dieser mickrige Traktor mit Anhänger. In aller Seelenruhe kletterte der Fahrer von seinem zerfransten Schaumstoffkissen. »Was gibt es denn, Herr Direktor?« Mein Vater war hin- und hergerissen. »Wir brauchen hier ein paar Bretter, Herr Björnsen. Aber sie können da nicht stehen bleiben.« »Ich hab Bretter dabei. Ich lade die hier ab.« »Bitte Herr Björnsen, fahren sie doch ein ganz kleines Stückchen weiter.« »Wo brauchen Sie die Bretter denn?« »Hier, bei der Einfahrt.« »Ja, warum soll ich denn dann weiterfahren?« Mein Vater sah zur Hauptstraße hinüber, von welcher aus der Minister einbiegen würde. Es war seltsam, aber alle unter diesem Vordach konnten spüren, dass er jetzt gleich kommen würde. Sehen konnte man ihn nicht, hören auch nicht. Aber irgendetwas kam näher und näher. Und dieser Herr Björnsen klappte den Anhänger auf, zog gemächlich knallgelbe Verschalungsplatten von der Ladefläche und ließ sie, eine nach der anderen, auf den nassen Erdboden klatschen.
    »Sieht doch gut aus«, sagte ich zu meinem Vater. Er nickte. Der Regen wurde noch stärker und trommelte auf den gelben Steg. An dessen Anfang stand Herr Björnsen, sah uns fragend an und rief: »So, geschafft.« Er winkte uns zu sich herüber. Die stellvertretende Direktorin sagte leise: »Der denkt, der Weg ist für uns.« »Wie, für uns?« Mein Vater verstand nicht und wollte nur, dass Herr Björnsen so schnell wie möglich mit seinem Traktor von der Straße verschwand. Mein älterer Bruder sagte zu ihm: »Na, der glaubt, dass wir hier nicht wegkommen und ihn gerufen haben, um uns zu retten.« Mein Vater rief: »Danke, wirklich vielen Dank. Würden Sie jetzt bitte den Traktor wegfahren!«
    Genau in dem Moment, als Herr Björnsen wieder einstieg und den Motor anließ, rief einer der Pfleger von ganz hinten: »Ich glaub, da kommt er.« Synchron wandten wir, das wartende Empfangskomitee, unsere Köpfe. Tatsächlich bog in diesem Moment behäbig ein schweres Auto um die Ecke und fuhr auf das Psychiatriegelände ein. Ich dachte im ersten Moment, dass dieser Wagen gar keine Scheiben hätte, so dunkel getönt waren sie, so Ton in Ton mit der Schwärze des Lacks. »Das is er! Das is er!« Mein Vater richtete sich auf, machte sich bereit. Wir alle unter dem Vordach nahmen Haltung an. Auch ich versuchte, mich aufrechter hinzustellen, würdiger. Der Wagen kam näher. Aber ich hörte den Motor nicht. Der Wagen fuhr nicht vor, er rollte vor. Vollkommen geräuschlos glitt die Dienst-Limousine des Ministerpräsidenten durch den nun heftigen, aber auch weich, wie eingeschüchtert fallenden Regen und blieb stehen.
    Wir alle sahen gebannt auf die Autotür. Einer der Pfleger trat aus dem Pulk heraus und dirigierte den Chor der durchnässten Patienten. Die stellvertretende Direktorin beugte sich über mich hinweg zu meinem Vater: »Die haben nicht mal Schirme. Das sieht nicht gut aus.« Mein Vater sah unentschlossen zu ihnen hinüber. Einem der singenden Patienten rutschte Ton für Ton seine durchnässte Wollmütze über die Augen. »Zu spät, zu spät. Das schaffen wir jetzt nicht mehr. Oder? Nein, egal.«
    Zwei Männer stiegen aus, stellten sich mit dem Rücken zum Auto und schickten hoch konzentriert, wie Raubvögel ruckend, ihre Blicke über das Areal. Über den neuen Parkplatz mit seinen noch schneeweißen Markierungen, über die von der psychiatrieeigenen Gärtnerei angelegten Rabatten bis hin zu den etwas weiter entfernt gelegenen,

Weitere Kostenlose Bücher