Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
düsteren Anstaltsgebäuden. Gebannt folgte ich ihren umherwandernden Augen, sah, wie der eine der Männer Etage für Etage die Fassaden kontrollierte, seine Pupillen von Fenster zu Fenster sprangen. Auch uns unter dem Vordach musterten sie genau. Der eine nickte dem anderen zu, und dann wurde die Autotür, hinter der, das war nun jedem der Wartenden klar, der Ministerpräsident saß, geöffnet. Einer der Männer spannte einen Regenschirm auf und hielt ihn schützend über die Tür. Doch der Ministerpräsident ließ sich Zeit. Er saß schemenhaft im getönten Dämmer der Limousine. Mein ältester Bruder staunte: »Guck mal, das gibt’s ja nicht, der telefoniert. Der hat ein Autotelefon.« Ich fragte meinen Vater: »Wann steigt der denn endlich aus?« Mein mittlerer Bruder sagte: »Papa, vielleicht wartet er auf dich. Will, dass du zu ihm in den Wagen steigst.« Mein Vater machte einen beherzten Schritt nach vorn und einen zögerlichen wieder zurück.
Da schob sich an einem langen Bein ein glänzender Schuh aus dem Wageninneren und landete schwer auf den Brettern. Kurz darauf der andere Fuß. Gleiches Hosenbein, gleiche Socke, gleicher Schuh. Und doch völlig verschieden. Diese beiden Füße hatten nichts miteinander gemein. Es sah nicht so aus, als ob sie sich kennen würden. Der eine träge und plump, ganz für sich auf dem Brett ruhend, der andere wippend und in der Luft federnd. Jetzt sogar knöchelkreisend, als würde sich die Schuhspitze umschauen oder den Regen abschütteln. Dann endlich war es so weit: Als Dr. Gerhard Stoltenberg aus seiner Limousine stieg, musste er sich ganz klein machen, so groß war er. Er krümmte sich aus der Autotür heraus und richtete sich auf. Wuchs und wuchs. Und mit jedem Zentimeter, den der amtierende Ministerpräsident von Schleswig-Holstein größer wurde, sich ent- und auseinanderfaltete, veränderte sich etwas, geschah etwas, das ich noch nie zuvor erlebt hatte.
Noch vor wenigen Momenten, vor der Ankunft dieses Mannes, hatte ich mir von meinem trockenen Platz aus alles in Ruhe ansehen, meinen Blick umherschweifen lassen können. Egal, ob der Parkplatz oder die Bäume, die Laternen oder die Gebäude – neben diesem Mann verkümmerte alles. Es gab nur noch ihn. Wir alle bestaunten nur noch ihn.
Stoltenberg hob den Kopf und blickte zu uns hinüber. Sein Haar war perfekt geschnitten, ein akkurat gescheitelter Silberhelm. Das war er also: »Der große Klare aus dem Norden«. Ursprünglich, hatte mir mein Vater erklärt, war das ein Werbespruch für einen weit über die Grenzen Schleswig-Holsteins hinaus bekannten Aquavit der Marke Bommerlunder gewesen. Er zeigte mir Anzeigen im Spiegel und im Stern. Meer, Kräne, Gischt, blauer Himmel und glitzernde Frische. Die eisgekühlte Flasche am Strand. Die eisgekühlte Flasche an Deck. »Der große Klare aus dem Norden«. So wurde er genannt. Voller Anerkennung, selbst vom politischen Gegner.
Ich hatte den Ministerpräsidenten schon einige Male im Fernsehen, in den Nachrichten gesehen. Mit diesem Mann aber, der da leibhaftig aus der Limousine in den Himmel gewachsen war, hatte das nicht das Geringste zu tun. Ich war mir sicher, dass er mir, nur mir, direkt in die Augen sah. Doch später am Abend behaupteten auch meine Brüder, sogar meine Mutter, dass er auf dem Weg vom Auto bis zu uns sie und nur sie angesehen hatte. Während er unter dem Schirm über den gelben Bretterweg schritt, schwenkten seine Augen zu den singenden Patienten im strömenden Regen hinüber. Hellbrauner Matsch wurde durch sein Gewicht schmatzend an den Bretterkanten hervorgepresst. Das waren doch mindestens acht Meter. Warum aber brauchte er nur vier, fünf Schritte, bis er vor uns stand? Eigentlich war ich klein und mein Vater groß. Doch jetzt war alles anders. Stoltenberg war groß, mein Vater klein und ich winzig.
»Ich freue mich ganz außerordentlich, dass Sie es noch zu uns geschafft haben, Herr Ministerpräsident.« Er nickte bloß, nickte und sah uns an. »Darf ich vorstellen: Meine Frau und meine Söhne. Und das ist meine Stellvertreterin, Frau Professor Harms!« Mein mittlerer Bruder, den eigentlich nichts so schnell verunsicherte und der das war, was man schlagfertig nennt, machte, als ihn der Ministerpräsident begrüßte, einen Diener. Ich hatte meinen Bruder noch nie einen Diener machen gesehen. Ich wusste gar nicht, dass er das konnte. Als Stoltenberg mir die Hand gab, meine Hand in der seinigen verschwand und für einen kurzen Moment wie in einem
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