Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
schieße!« noch nie gehabt. Er trat hervor, hob seinen silbernen Colt und zielte auf die Männer im Matsch. Mein Vater rief: »Wir wollen jetzt nicht mehr spielen. Wirf deine Pistole weg!« Rudi zog eine seltsame Grimasse und machte einen weiteren Schritt.
Einer der Koffermänner brüllte los: »Wenn der noch näher kommt, knall ich ihn ab. Ich knall ihn ab! Der soll die Waffe wegwerfen.« Rudi strahlte, strahlte und machte noch einen Schritt. Mein Vater trat in die Schusslinie. »Rudi, guck doch mal, die liegen doch schon am Boden. Die haben verloren. Du hast gewonnen. Jetzt steck mal deine Waffe weg.« Rudi überlegte. Dann warf er seinen Revolver hoch in die Luft, und das Geräusch, mit dem er auf der Straße aufschlug, klang so eindeutig nach Plastik, dass die Männer im Schlamm zu ahnen begannen, dass mein Vater die Wahrheit gesprochen hatte.
Einen kurzen Moment lang herrschte eine geradezu feierliche Ruhe, ein kollektives Innehalten der besonderen Art. Dann rollten die Männer sich vom Ministerpräsidenten herunter. Mein Vater betrat den gelben Steg. Meine Mutter folgte ihm.
Zwei Pfleger rannten zu Rudi. Drehten ihm, völlig übertrieben wie ich fand, die Arme auf den Rücken. Die stellvertretende Direktorin fuhr sich mehrmals impulsiv mit den Fingern durch ihre Kurzhaarfrisur. Mein mittlerer Bruder sagte leise: »Wow, das war ja der Hammer!« Der Dandyreporter knipste in rascher Folge ein paar Fotos. Und Stoltenberg rührte sich nicht, lag wie erschossen auf dem Bauch im Matsch. Neben ihm knieten meine Eltern: »Herr Ministerpräsident, es ist alles gut«, sagte mein Vater, und »Sie können jetzt aufstehen« meine Mutter.
Dr. Gerhard Stoltenberg hob langsam den Kopf. Mit einem schlürfenden Sauggeräusch zog er ihn aus dem Schlamm. »Kommen Sie. Ich helfe Ihnen auf.« Mein Vater streckte die Hand aus. Die verschmierten Männer hatten ihre Koffer aufgehoben und die Waffen darin verschwinden lassen. Stoltenberg wollte keine Hilfe. Unbeeindruckt, vielleicht ein ganz wenig brüchig, sagte er: »Danke, das geht schon. Das schaffe ich gut allein.«
Und dann stand er auf. Wieder wuchs und wuchs dieser Mann. Dr. Gerhard Stoltenberg, der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, stand da, tropfend, und sah aus wie ein Schwein. Ein riesiges, aufrecht stehendes Schwein, das sich zusammen mit seinen beiden besten Freunden ein ausgiebiges Schlammbad genehmigt hatte.
Mein Vater bat den Fotografen, keine weiteren Fotos zu machen. Der nickte triumphierend, lüpfte den Kamelhaarmantel, stolzierte wie ein stolzer Storch durch den Matsch, stieg in seine Ente und brauste davon. »Herr Ministerpräsident, ich wohne hier gleich um die Ecke. Kommen Sie. Ich kümmere mich um alles.« Und so zogen wir los. Eine seltsame Prozession.
Als unser Hund den Ministerpräsidenten sah, bekam er einen hysterischen Bell-, Knurr- und Winselanfall. Er zog den Schwanz ein, krümmte sich, drehte sich vor Angst im Kreis. Dann fletschte er die Zähne, seine Nackenhaare stellten sich auf, und er sah aus wie eine gemeingefährliche Hyäne, die eine Erscheinung hatte. Meine beiden Brüder zerrten ihn am sogenannten Würgehalsband in das Schlafzimmer meiner Eltern.
Im Keller hatten wir ein Gästezimmer mit einer Dusche. Dort wuschen sich die Koffermänner. Meine Mutter rief durch die Tür: »Ich lege Ihnen Jogginghosen und T-Shirts meiner Söhne raus. Ich hoffe, die passen. Wir haben leider keine Bademäntel.« Stoltenberg hatte sich oben im Badezimmer eingeschlossen. Mein Vater und meine Mutter überlegten, was man ihm zum Anziehen geben könnte. Da mein Vater um einiges kleiner war, würden seine Hosen nicht passen. Eine Jogginghose, so mein Vater, käme nicht infrage. »Los, jetzt überlegt doch mal«, bat er uns, »der kommt gleich raus!« Der Vorschlag meiner Mutter, ihn in eine Decke zu hüllen, wurde genauso abgelehnt wie die Idee meines Bruders, ihn für eine Stunde ins Bett zu packen. Da hörten wir, wie die Dusche abgedreht und der Duschvorhang beiseitegeschoben wurde. Ich rannte in das Arbeitszimmer meines Vaters, wo er hin und wieder auch Privatpatienten behandelte, nahm seinen Arztkittel, der hinter der Tür hing, vom Haken und lief zurück. »Wie wäre es damit?«
Ich hielt den Kittel hoch. Mein Vater überlegte: »Ja, ich glaube, das müsste gehen.« Mein mittlerer Bruder klopfte mir auf die Schulter: »Eine Meisterleistung, Bruderherz, eine Meisterleistung.« Und mein ältester Bruder griff mir in die dichten Locken, schüttelte
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