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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)

Titel: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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verfilzte Haare, rauchte Kette und trug keinen BH. Das hat mich schwer irritiert, ihre unter den fleckigen T-Shirts tief hängenden, frei schwingenden Brüste. Wenn man zu ihr ging, roch man danach so ekelhaft, dass man duschen musste. Auch wenn man nur kurz den Eierkarton abgab, einmal bis zu ihrem Sessel und wieder hinausging, stank man bestialisch. Dieser Geruch kroch einem nicht in die Kleidung, dieser Gestank fiel einen aggressiv an und bohrte sich durch die Kleidung hindurch in jede Pore. Im Winter trug sie in der mit einem Ölofen völlig überheizten Wohnung eine kurze Turnhose. Ihre Schienbeine waren von dunklen Flecken übersät, oberhalb der Socken schwarz, und ich habe mich immer gefragt, wie sie sich so oft stoßen kann, obwohl sie so gut wie nie aufsteht. Alles in dieser Wohnung war ekelhaft. Die Küche ein stinkendes Chaos. Und, das konnte ich gar nicht glauben, kein Toilettenpapier, gefaltete Zeitungsseiten lagen neben dem Klo auf dem Badezimmerboden.
    Tochter Michaela war so alt wie ich und schwer zuckerkrank. Schon als ich sie kennenlernte, sah sie schlecht. Tagsüber ging sie in eine Sonderschule. Sie schubste mich in die Brennnesseln, bedrohte mich mit ihrer Insulinspritze und sprühte mich mit Pflanzengift an. Eine Freundschaft wurde daraus nicht.
    Während bei uns jede aufgegangene Saat mit Tausenden Achs und Ohs gefeiert wurde – dicke Bohnen, grüne Bohnen, gelbe Bohnen, Stangenbohnen behutsam geerntet und in mit Tüchern ausgelegte Flechtkörbe gebettet wurden –, wucherte bei unseren Nachbarn in völlig verunkrauteten Beeten alles durcheinander. Wir drehten die Boskopäpfel einzeln von den Zweigen, und drüben fiel das überreife Obst von den Bäumen, landete zwischen Autoteilen und anderem Müll und verfaulte. Meine Mutter stand in ihrem bodenlangen Wollmantel im Hof und fragte die kettenrauchende und verwahrloste Mutter Meisner: »Und haben die Hühner diese Woche gut gelegt?« Seltsamerweise legten die Hühner, wenn wir da waren, viele und unter der Woche kaum Eier. In mehreren grob zusammengezimmerten Ställen hielten unsere Nachbarn Hasen. Die Ställe wurden nie ausgemistet und waren voller pissedurchtränktem Stroh, sodass die armen Nager bis unter die Stalldecke gequetscht wurden. Unsere Tiere hatten Namen und wurden gestreichelt, Meisners Tiere waren namenlos und landeten im Kochtopf.
    Mutter Meisner humpelte immer stärker. Schließlich wurde ihr der Fuß amputiert. An den Wochenenden sah mein Vater nach ihr und verband den Stumpf. Sie rauchte weiter. Im Laufe der nächsten zwei Jahre wurde diese Frau immer kürzer. Ein Stück vom Unterschenkel, anderer Fuß, anderer Unterschenkel, ein Stück vom Oberschenkel. Einmal fand ich im Kies das Katzenauge einer ihrer Krücken. Ich brachte es ihr, und zum Dank schenkte sie mir ein Feuerzeug.
    Als wir an einem nasskalten Samstag auf den Hofplatz einfuhren, waren alle Vorhänge zugezogen. Mein Vater klingelte mehrmals an der niedrigen Haustür. Der Sohn machte auf. »Ich wollte mal nach deiner Mutter sehen«, sagte mein Vater. Ich war gerade von der Rückbank gekrabbelt und hörte den Sohn antworten: »Die ist nicht da.« Ich ging über den Kies und stellte mich hinter meinen Vater, ich reichte ihm schon knapp bis an die Schulter. »Wo ist sie denn?«, fragte mein Vater freundlich nach. Der Sohn zögerte kurz und wiederholte: »Die ist nicht da.« »Musste sie doch wieder ins Krankenhaus?« Und dann kam die Antwort, die ich nie mehr vergessen sollte: »Nee, da ist sie auch nicht. Die ist nicht mehr da. Die ist tot.« Mein Vater schwieg. Dann flüsterte er betroffen: »Oh, das tut mir leid.«
    Der Sohn zeigte keinerlei Regung, drehte sich um und ging ins Haus. Er war so alt wie mein mittlerer Bruder, hatte mit sechzehn einen Schnurrbart, sah aber aus wie dreißig. Er besuchte die Hauptschule und fuhr den ganzen Tag mit seinem frisierten Mofa herum. Er kam mit Helm aus dem Haus und ging mit Helm hinein. Ich kannte ihn eigentlich nur so – mit Bärtchen zwischen zusammengequetschten Backen. Einmal allerdings habe ich ihn beim Hühnerschlachten gesehen. Er war von grausiger Ruhe dabei. Die frisch geköpften Hühner setzte er auf den Boden und gab ihnen einen Tritt. Sie flatterten davon.
    Mein Vater las alles über Landwirtschaft. Seine Bibel wurde John Seymours »Das Leben auf dem Land«. Er wollte ein sogenannter »Selbstversorger« werden. Doch letztlich war es wieder meine Mutter, die die Ställe strich, den Garten bestellte und die Tiere

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