Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war: Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (German Edition)
der nächsten Woche hielt ich es nicht mehr aus und überredete meinen Vater, mit mir hinauszufahren. Er tat zwar so, als wäre es unmöglich, doch ich bemerkte recht schnell, wie große Lust er dazu hatte, und brauchte nicht mehr lange, ihn zu überzeugen.
Als ich meine Hand auf den Meiler legte, war er kühl. Endlich. Endlich konnte ich ihn öffnen. Zweieinhalb Wochen war es her gewesen, dass wir ihn angefeuert hatten. Mein Vater stand neben mir in gelben Gummistiefeln, während ich mit einer kleinen Gartenharke an der Oberfläche kratzte. Ich wollte auf gar keinen Fall nur den Mackintoshdeckel abheben, nein, ich wollte durch die Hülle brechen. Ich kam mir vor wie ein Archäologe, der im Tal der Könige eine Grabkammer öffnet. Gleich würde ich herrliche Schätze in meinen Händen halten. Die Kruste war so hart gebacken, dass ich nur ein wenig Staub abschaben konnte. Mein Vater holte mir einen Hammer und einen Meißel. Ich schlug ihn hinein, und es bildete sich ein Riss. Ich hämmerte weiter und ein handtellergroßes Stück fiel ins Innere. Ich beugte mich vor. Was ich sah, war unglaublich: ein schwarzsilbernes Labyrinth aus Holzkohlescheiten, geheimnisvoll schimmernd. Ich brach ein weiteres Stück heraus. Wie die gewölbte Scherbe eines antiken Tongefäßes sah es aus. Außen hell, innen schwarz lackiert vom Ruß. Ich arbeitete sorgfältig weiter, bis die Öffnung groß genug war, um einen ersten Scheit herauszubekommen. Ich tastete mich vor. Die Oberfläche der Kohle war vollkommen glatt, fast weich. Ich griff zu und konnte nicht glauben, wie leicht das Stückchen war. Lachend gab ich es meinem Vater. Viele der Scheite erkannte ich wieder. Es war wie Zauberei. Sie hatten noch genau dieselben Astlöcher, Ausbuchtungen und Knubbel, waren aber geschrumpft und schwarz und hatten all ihre Schwere verloren. Mein Vater stapelte unsere Beute fein säuberlich in die Schubkarre und mehrere Wochen später, als der meiste Müll beseitigt war, grillten wir am Abend mit eigener Holzkohle. Noch immer kannte ich jedes Stück persönlich, und stolz, aber auch etwas wehmütig, sah ich zu, wie zischend der Bratensaft auf meine Kohlen tropfte und sie nach und nach zu Asche zerfielen.
Das Leben auf dem Land
Die Familie gegenüber im sogenannten Altenteil hieß Meisner. Der Vater trug jahreszeitenunabhängig einen verschlissenen Blaumann, ein kariertes Flanellhemd, ein blaues Käppi und Sicherheitsschuhe mit Stahlkappe. »Komm, tritt mir mal auf den Fuß!«, war eine seiner Lieblingsaufforderungen an mich. Ich traute mich nie so recht und tat es nur mit halber Kraft. Da wurde er schnell sauer: »Willst du mich verarschen? Los, tritt zu! Doller! Mensch, noch doller!« Es war, als würde man auf einem Steinschuh herumtrampeln. Mir tat der Fuß weh, und er sah mich abschätzig an, als wäre ich ein verwöhnter Schwächling. Seit seiner Jugend arbeitete er in einer Nestlé-Fabrik, die Trockenmilch herstellte. Sein Arbeitsplatz lag direkt in den Trockenkammern, wo er das Pulver in die Heißluftgebläse schaufeln musste. Seine Haut war vollkommen vertrocknet. Er sagte: »Ich hab Hornhaut im Gesicht. Was andere Leute unter den Füßen haben, habe ich im Gesicht. Fass mal an. Ich bin total verdorrt. Na los, trau dich. Fass mal an!« Wieder das gleiche Spiel. Ich traute mich nicht recht, und er ließ nicht locker: »Mensch, los jetzt, fass mal an. Doller. Das ist alles luftgetrocknet.« Ich überwand mich und berührte seine Wange mit den Fingerkuppen. Spröde, raspelraue Haut, die keinen Millimeter nachgab. Er hatte nicht nur Stahlkappen an den Füßen, sondern auch sein Gesicht war eine. Wenn er zu viel getrunken hatte, stand er auf der Wiese oder im Feld herum und sah in die Ferne. Hin und wieder pinkelte er, ohne sich vom Fleck wegzubewegen. Einmal zeigte er mir völlig besoffen, wie man aus einem Schafsgarbenhalm eine primitive Flöte schnitzt. Er schnitt sich in den Finger und lachte. Sein Blut rann über den hellgrünen Halm, aber er kümmerte sich nicht darum. Ich sagte: »Sie bluten. Soll ich ein Pflaster holen?« Er knurrte nur »Ach was« und schnitzte Löchlein in das Rohr. Als sie fertig war, spielte er, jeden Ton einzeln, das Schleswig-Holstein-Lied. Dabei lief das Blut über die Flöte und tropfte rot von seinen Fingern.
Mutter Meisner, seine Frau, lernte ich erst kennen, als ich zum ersten Mal ihr Haus betrat. Sie war von einer mir bis dahin unbekannten Ungepflegtheit. Sie stank und ging nie vor die Tür, hatte graue,
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