Warnschuss: Thriller (German Edition)
trotzten der Nachmittagshitze, schossen Fotos des Friedhofes, studierten die historischen Gedenktafeln und versuchten die Inschriften auf den Gräbern zu entziffern. Er schlenderte zu einer schattigen Holzbank und setzte sich, aber er griff nicht nach dem Handy, um seine Eltern anzurufen. Stattdessen blieb er einfach sitzen und starrte auf die schiefen Grabsteine und abbröckelnden Backsteingruften.
Er konnte sich vorstellen, wie ihn die Geister der gefallenen Helden aus den Revolutionskriegen erwartungsvoll ansahen und abwarteten, was er unternehmen würde. Würde er das Richtige tun? Oder zum ersten Mal in seiner Laufbahn das Diktat seines Gewissens missachten?
Über den nahen Hausdächern ragten die zwei Kirchtürme von St. John the Baptist auf, als wollten auch sie ihm in Erinnerung rufen, dass ein Verstoß gegen das eigene Gewissen eine schwerwiegende Entscheidung war.
Trotz dieser stillen Warnungen fasste er in die Hosentasche und zog den Zettel heraus, den er dort hineingesteckt hatte und den Elise Laird ihm klammheimlich beim Abschied in die Hand gedrückt hatte.
Er hatte sofort gespürt, dass etwas zwischen ihren Handflächen war. Sie hatte seine Hand so fest umgriffen, dass
der Zettel nicht zu Boden segeln und sie verraten konnte. Ihre Augen hatten ihn angebettelt, es ebenfalls nicht zu tun.
Trotz ihres flehenden Blickes hätte er den Zettel gleich dort lesen sollen. Spätestens aber, als er mit DeeDee allein gewesen war. Er hätte seiner Partnerin davon erzählen müssen, er hätte ihn öffnen und ihn mit ihr zusammen lesen müssen.
Doch das hatte er nicht getan.
Jetzt brannte das Papier wie heiße Glut in seiner Hand. Er drehte es mehrmals hin und her, um es zu untersuchen. Das einzelne weiße Blatt war zweimal zu einem kleinen Rechteck gefaltet worden. Es wog praktisch nichts. Es sah vollkommen harmlos aus, doch das täuschte. Ganz egal, was darin stand, es würde ihn in Schwierigkeiten bringen.
Falls es Informationen über den Schusswechsel gestern Abend enthielt, handelte es sich um Beweismaterial, das er schon jetzt zurückhielt.
Wenn es etwas Persönliches war, wäre es noch belastender.
Im ersten Fall handelte es sich um eine Rechtsfrage. Im zweiten um eine moralische.
Es war noch nicht zu spät, DeeDee den Zettel zu zeigen. Er konnte sich eine Ausrede einfallen lassen, warum er ihn nicht gleich herausgeholt hatte; sie würde ihm wahrscheinlich nicht glauben, aber sich doch damit zufriedengeben, weil sie unbedingt erfahren wollte, was darauf stand. Sie würden es öffnen, lesen und gemeinsam analysieren, was die Nachricht zu bedeuten hatte.
Andernfalls konnte er seine Ehre beinahe bewahren, wenn er den Zettel zerriss und bis an sein Lebensende darüber rätselte, was wohl darauf gestanden hatte.
Stattdessen faltete er ihn auf, mit feuchten Händen, angehaltenem Atem und klopfendem Herzen, unter den strengen
Blicken der Geister jener Männer, die einst diese Nation gegründet hatten, und direkt vor den Kirchtürmen, die gen Himmel zeigten, als wollten sie Gott auf seinen gefallenen Sohn hinweisen. Die Worte waren in klarer Handschrift gefasst.
Ich muss Sie unter vier Augen sprechen. Bitte.
7
Elise sah sich einen Film auf DVD an. Es war die Spielfilmversion einer Novelle von Jane Austen. Sie hatte den Film mindestens ein Dutzend Mal gesehen und konnte die Dialoge praktisch mitsprechen. Die Kostüme und Ausstattung waren verschwenderisch. Die Regie kongenial. Die Nöte der Heldin waren trivial und leicht zu beheben. Alles löste sich in einem Happyend auf.
Ganz anders als im wahren Leben. Genau darum hatte sie den Film so gern.
»Ich hatte recht«, verkündete Cato, der eben ins Fernsehzimmer trat, wo der Plasmafernseher und Elises umfangreiche DVD-Bibliothek untergebracht waren.
Sie griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton ab. »Womit?«
Er setzte sich neben sie aufs Sofa. »Gary Ray Trotter war nie in meinem Gerichtssaal. Sobald die Detectives weg waren, habe ich in meinem Büro angerufen und angeordnet, alle Akten zu durchforsten. Gründlich. Ich habe nie über einen Gary Ray Trotter zu Gericht gesessen.«
»Weißt du auch, ob er in einem anderen Fall als Zeuge aufgerufen wurde?«
»Das festzustellen würde mehr Arbeitszeit kosten, als ich zu investieren gewillt bin. Außerdem bin ich beinahe überzeugt, dass die Auskunft, die ich den beiden Detectives gab, korrekt ist. Ich habe den Mann nie zuvor gesehen. Du sagtest, du hättest ihn auch nicht erkannt.«
»Weil es
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