Warte auf das letzte Jahr
blieb stehen und wies auf eine Tür. »Zeigen Sie nicht, daß Sie überrascht sind, wenn Sie sie sehen«, forderte er Eric auf. »Ich meine, wenn Sie sehen, daß sie noch ein Kind ist.«
»Ich bin darüber informiert worden«, erklärte Eric. Er drückte auf die Klingel. »Ich weiß Bescheid.«
»Sie wissen Bescheid«, spottete der Geheimdienstbeamte zu seiner Linken. »Schön für Sie, wo Sie sie noch gar nicht gesehen haben. Vielleicht werden Sie der nächste UNO-Generalsekretär, wenn der Maulwurf endgültig den Löffel abgegeben hat.«
Die Tür öffnete sich. Ein erstaunlich kleines, dunkelhaariges, hübsches Mädchen stand ihm gegenüber; sie trug ein seidenes Herrenhemd und eine enge Hose und hielt in der Hand eine Nagelschere; offensichtlich war sie gerade mit der Maniküre ihrer Fingernägel beschäftigt, die lang und hell lackiert waren.
»Mein Name ist Sweetscent. Ich gehöre seit kurzem zu Gino Molinaris Stab.« Fast hätte er zum Stab Ihres Vaters gesagt; gerade noch rechtzeitig hatte er sich eines Besseren besonnen.
»Ich weiß«, sagte Mary Reineke und nickte. »Und er ruft nach mir; ihm geht es lausig, nicht wahr? Einen Augenblick, bitte.« Sie verschwand kurz, um ihren Mantel zu holen.
»Ein Schulmädchen«, brummte der Beamte, der links neben Eric stand. Er schüttelte den Kopf. »Bei jedem normalen Mann würden die Gerichte einschreiten.«
»Halt den Mund«, fuhr ihn sein Kollege an, als Mary Reineke zurückkehrte; sie trug jetzt ein weites, blauschwarzes Jackett mit großen Knöpfen.
»Hört mal, ihr Helden«, wandte sich Mary an die Geheimdienstbeamten. »Ihr beiden verzieht euch jetzt; ich möchte mich mit Dr. Sweetscent unterhalten, ohne daß ihr eure neugierigen Nasen hineinsteckt.«
»Schon gut, Mary.« Die Beamten grinsten und entfernten sich. Eric war jetzt allein mit dem Mädchen.
Schweigend schritten sie den Korridor entlang, bis Mary schließlich fragte: »Wie geht es ihm?«
Vorsichtig antwortete Eric: »Alles in allem ist er bemerkenswert gesund. Obwohl es fast unglaublich klingt. Aber …«
»Aber er stirbt. Ständig. Er ist krank, doch er gibt nicht auf … Ich wünschte, es würde endlich ein Ende nehmen; ich wünschte, er …« Sie schwieg nachdenklich. »Nein. Wenn Gino stirbt, würde man mich rausschmeißen. Zusammen mit all den Cousins und Onkeln und Bambinos. Man würde das ganze Unkraut entfernen, daß sich hier eingenistet hat.« Ihre Stimme klang grimmig und verbittert; Eric sah sie scharf an. »Sie sind hier, um ihn gesund zu machen?« fragte Mary.
»Nun, ich kann es versuchen. Ich kann zumindest …«
»Oder sind Sie hier, um … wie nennt man es?«
»Um ihm den Gnadenstoß zu geben«, murmelte Eric.
»Ja.« Mary Reineke nickte. »Nun? Warum sind Sie hier? Oder wissen Sie es nicht? Sind Sie genauso unentschlossen wie er?«
»Ich bin nicht unentschlossen«, erklärte Eric nach einem Moment des Nachdenkens.
»Dann kennen Sie Ihre Pflicht. Sie sind dieser Transplantchirurg, nicht wahr? Der beste Transplantchirurg der Erde … Ich glaube, ich habe etwas über Sie im Time-Magazin gelesen. Halten Sie Time nicht auch für ein sehr informatives Magazin? Ich lese es jede Woche vom Anfang bis zum Ende, vor allem die medizinischen und wissenschaftlichen Teile.«
»Gehen Sie … gehen Sie zur Schule?« fragte Eric.
»Ich bin fertig. Zum College will ich nicht. Ich pfeife auf das, was man gemeinhin ›höhere Bildung‹ nennt.«
»Was wollen Sie werden?«
»Wie meinen Sie das?« Argwöhnisch blickte sie ihn an.
»Ich meine, welchen Beruf wollten Sie ergreifen?«
»Ich brauche keinen Beruf.«
»Aber das wußten Sie doch nicht; Sie konnten doch nicht davon ausgehen, daß sie …« Er machte eine hilflose Handbewegung. »Daß Sie hier im Weißen Haus leben würden.«
»Natürlich konnte ich das. Ich wußte es mein ganzes Leben lang. Seit ich drei Jahre alt war.«
»Aber woher?«
»Ich war – ich bin – eine von diesen Präkogs. Ich konnte in die Zukunft sehen.« Ihre Stimme klang gelassen.
»Können Sie das noch immer?«
»Natürlich.«
»Dann brauchen Sie mich auch nicht zu fragen, warum ich hier bin; Sie können in die Zukunft schauen und feststellen, was ich tun werde.«
»Was Sie tun«, erklärte Mary, »ist nicht so wichtig; es wird nicht registriert.« Sie lächelte und entblößte dabei wunderschöne, regelmäßige weiße Zähne.
»Das kann ich nicht glauben«, versetzte er gereizt.
»Dann werden Sie doch Ihr eigener Präkog; fragen Sie mich nicht,
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